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Kinder ohne Tabak

Das Parlament hat zur Initiative «Kinder ohne Tabak» einen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet. Auf den ersten Blick scheinen sich die Alternativen kaum zu unterscheiden: Der Tabakverkauf an unter 18-jährige wird schweizweit untersagt und Plakatwerbung landesweit verboten. Die Initiative will jede Werbemassnahme untersagen, die potentiell Minderjährige erreicht, der Gegenvorschlag verbietet Kinowerbung und das Sponsoring internationaler Events – dem EU-Recht entsprechend – generell. Das Sponsoring nationaler Anlässe bleibt durch den Gegenvorschlag erlaubt, insofern dieser Anlass nicht auf Minderjährige abzielt. Hier geht die Initiative weiter: Es muss gewährleistet werden, dass ausschliesslich Erwachsene erreicht werden.

Kein Unterschied?

Macht es also gar keinen Unterschied? Die Tabakindustrie, die den Gegenvorschlag breitwillig unterstützt, möchte uns das gerne glauben machen. Aber der Teufel liegt im Detail. Mit dem Gegenvorschlag wären PR-Aktionen an Festivals oder Printwerbung in Gratiszeitungen weiterhin erlaubt. Das sind wesentliche Werbefenster für eine Industrie, die die Hälfte ihrer Kundschaft bereits als Minderjährige gewinnt.

Die Schweiz belegt bezüglich Tabakpräventionsmassnahmen im europäischen Vergleich den zweitletzten Platz.

Sie ist das einzige Land in diesem Vergleich, das das Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Eindämmung des Tabakgebrauchs nicht ratifiziert hat. Der Lobbyismus der in der Schweiz ansässigen Tabakkonzerne – Philipp Morris in Lausanne, Japan Tobacco in Genf und British American Tobacco in Boncourt – zeigt Wirkung.

Wirtschaftsfreiheit

In dieser Initiative geht es nicht um Details sondern um einen Paradigmenwechsel. Die Tabakindustrie wäre neu verantwortlich dafür, gegenüber Kindern und Jugendlichen, wenigstens mit ihren Werbemassnahmen, unsichtbar zu bleiben. Das ist eine Umkehr der Verantwortlichkeit. Anstelle einer komplizierten Kasuistik, aus der diese Firmen immer wieder Schlupflöcher finden, steht ein Grundsatz:

Ihr müsst sicher stellen, dass eure Werbung keine Kinder und Jugendlichen erreicht.

Just dies geht den Gegner:innen der Initiative zu weit. Damit sei die Wirtschafts- und Gewerbefreiheit empfindlich getroffen. Für legale Produkte dürfe geworben werden. Das klingt einleuchtend, stimmt aber nicht ganz. Der Bundesgerichtsentscheid vom 28. März 2002 hält fest, dass beispielsweise Tabakwerbung oder Werbung für harte alkoholische Getränke verboten werden kann, weil dies im «überwiegenden öffentlichen Interesse zum Schutz von Leben und Gesundheit» liegt.

Süchtige haben keine Wahl

Generell stösst das liberale Modell an seine Grenzen. Sieht man Tabak als Genussmittel, denkt an die sonntägliche Zigarre, die genussvoll in den Mittagsstunden geraucht wird, kann man den Tabakkonsum als freie Entscheidung freier, mündiger Menschen verstehen. Das beschreibt aber nur die Realität sehr weniger Menschen. Die meisten rauchen nicht, weil sie es geniessen und sie wünschten, nie damit angefangen zu haben. Für die meisten Raucher:innen gibt es nur einen Grund weiter zu rauchen: Sie sind süchtig.

Für diese Mehrheit sind Tabakprodukte keine Genussmittel, sie wählen nicht frei, sie weiterhin zu konsumieren, sondern haben als Süchtige keine Wahl.

Genussmittel? Suchtmittel!

Natürlich kennt jeder irgend einen Onkel, der sein Leben lang für sein Leben gern geraucht hat und mit 85 Jahren kerngesund, friedlich eingeschlafen ist. In Wirklichkeit sterben in der Schweiz täglich 26 Menschen an den Folgen des Tabakkonsums. Die Hälfte aller täglich Rauchenden stirbt frühzeitig, davon wiederum die Hälfte vor dem 70. Altersjahr. Im Durchschnitt reduziert sich die Lebenserwartung täglich Rauchender gegenüber Nichtrauchenden um 14 Jahre. Aber auch die Überlebenden büssen Fitness und Gesundheit zeitlebens ein.

Rauchen ist für die meisten Menschen eine Folge ihrer schweren Suchterkrankung und es ist lediglich die Leistung einer milliardenschweren Industrie, dass wir Zigaretten wie Genussmittel und nicht wie Suchtmittel behandeln.

Um in der Bildsprache der Initiativ-Gegner:innen zu bleiben: Die wenigsten Menschen kämpfen mit dem inneren Zwang, sich täglich mehrere Cervelats in den Mund schieben zu müssen. Sie können schwierige Telefongespräche führen, ohne eine Cervelat dazu zu essen. Und auf dem Flughafen suchen sie nicht verzweifelt nach einem Ort, an dem sie eine Cervelat verspeisen können. Ich mache mir auch nie Sorgen darüber, dass meine Kinder im Sportverein oder der Pfadi in den Kontakt mit Cervelats kommen.

Freiheit

Zu unserer Freiheit gehört wesentlich dazu, auch Dinge tun zu können, die nicht gesund sind: Torte essen, Marathon laufen, zu wenig schlafen. Und wir dürfen Dinge tun, die gefährlich und aufregend sind: Bergsteigen, Motorradfahren oder Aareschwimmen im Winter. Aber wir sollten um unserer Freiheit Willen nicht diese Freiheit mit einer Drogensucht verwechseln. Nur wer dies tut, kann in Werbebeschränkungen für Tabakprodukte eine staatliche Bevormundung sehen.

Als das Rauchen in Restaurants und Clubs verboten wurde und die SBB den Raucherwagon abgeschafft haben, hielten das bürgerliche Kreise für einen Verrat an unserer Freiheit. Heute wäre es undenkbar, dass jemand in einem Restaurant raucht, während Menschen essen. Es wäre einfach stillos. Und es ist gut, dass wir das so sehen.

Lösung oder Teil des Problems?

Monika Rühl, Vorsitzende von Economie Suisse, weiss das wohl auch. Deshalb wirbt sie mit einem anderen Grund gegen die Werbeeinschränkung: Die Volksgesundheit. Das «schadensmindernde Potenzial» der Alternativprodukte, die Tabakkonzerne in jahrelanger Forschungsarbeit entwickelt hätten, dürften nämlich auch nicht beworben werden.

In Wirklichkeit haben Nikotinabhängige durch die E-Zigaretten vor ungefähr 10 Jahren eine sehr wirksame, nachweislich weniger schädliche Alternative erhalten. Auf diesen Zug mussten die Tabakmultis aufspringen. Ihre «technologische Innovation» verspricht ein «geringeres Gesundheitsrisiko» als der Zigarettenkonsum. Nach dem E-Zigaretten-Skandal 2019 – über 70 Personen verstarben am Konsum von mit Vitamin-E-Azetat gestreckten Liquids –, konnten sich die «natürlichen» Tabakprodukte der Multis breit durchsetzen.

Als E-Zigaretten noch in Kellerlokalen von Seitengassen verkauft wurden, hatten die Tabakmultis mit den Kiosks schon ein gutes Vertriebsnetzwerk.

Ihre eleganten Flagship-Stores an bester Lage taten das Übrige. Es ist erwiesen, dass diese Alternativprodukte weniger schädlich sind. Wie E-Zigaretten auch. Gut, wenn solche Produkte das Risiko für Suchtkranke senken, an tödlichen Krankheiten zu sterben. Wenn die Tabakindustrie dabei eine glaubwürdige Partnerin sein will, sollte sie aber zuerst aufhören, das Problem, das sie lösen will, weiterhin zu verursachen. Alles andere ist zynisch. Jugendliche und Kinder brauchen keine Ersatzprodukte für Nikotinabhängige. Flyer in Arztpraxen würden genügen.

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