Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Kantate! Singt!

Singen tut so gut!

In meiner Kindheit und Jugend habe ich viel gesungen: im Jugendchor, im Kirchenchor, im Schulchor. Aber auch in Freizeitlagern und vor allem zu Hause. Noch heute schwirren unzählige Liedstrophen in meinem Kopf herum und ploppen bei Gelegenheit hoch. Das dazu gehörende Lebensgefühl inklusive: mal ausgelassen und fröhlich, mal innig und melancholisch. Irgendwann kam das Chorsingen aus der Mode. Die erforderliche Verbindlichkeit war eine zu grosse Hürde geworden. Und war es nicht peinlich, so vor anderen die Stimme zu erheben, und alle konnten es hören?

Seit ein paar Jahren sind Chöre wieder en vogue. Ob als Projektchor, Kirchenchor oder beim Karaoke, die Freude des gemeinsamen Singens wurde wiederentdeckt. Singen tut der Seele gut.

Jetzt ist Singen gefährlich

Ich lese Geschichten über Chöre, die kurz vor dem lock down noch gemeinsam geprobt und sich gegenseitig angesteckt haben; obwohl sie den Abstand zueinander gewahrt hatten.  Über die tief ein- und durch den Mund singenderweise wieder ausgeatmete Luft wurden nicht nur Töne, sondern auch Viren im ganzen Raum verbreitet.

Shut up!

Nicht singen, den Mund halten, lautet die Devise. Diese Aufforderung kenne ich nur aus meiner Kindheit, als wir Kinder mit unserem ständigen Reden, Fragen, Kichern, Plappern, Blödeln, Schreien und Singen den Erwachsenen gründlich auf die Nerven gingen. «Halt den Mund und sei endlich mal ruhig». Das würde sich heute kein Kind mehr gefallen lassen. Obwohl ich rückblickend ein gewisses Verständnis für die Erwachsenen habe: Ich muss unaufhörlich gequasselt haben.

Andererseits: «Wovon das Herz voll ist, davon fliesst der Mund über»; das weiss schon die Bibel (Lukas 6,45).

Das aktuelle und gewöhnungsbedürftige Bild des Mundschutzes schiebt sich mir vor die Linse. Mundschutz als kollektives Shut up! Bis jetzt konnte sich der Mundschutz in der Schweiz noch nicht flächendeckend durchsetzen. Und nicht nur, weil es zu Anfang keinen gab. Wir wollen uns den Mund nicht verbieten lassen. Wir bestehen auf das «von Angesicht zu Angesicht». Mich macht das froh.

Der geschlossene Mund steht für «tot»

Im alten Ägypten gab es ein Mundöffnungsritual, das die Götter beziehungsweise ihre Priester an der Mumie vornehmen mussten. Im Totenreich stumm bleiben zu müssen, war für die Ägypter eine Horrorvorstellung. Solange man lebt, lebt man auch durch den Mund. Erst wenn man tot ist, ist der Mund geschlossen. Im Ausdruck «jemanden mundtot machen», jemanden zum Schweigen, zum Verstummen bringen, ist diese Einsicht bis heute erhalten.

Und in den Psalmen des Alten Testaments flehen Beter Gott um Errettung an und bringen dabei ein listiges Argument vor: Gott, Du willst doch, dass ich Dich lobe. Also errette mich. Denn wenn ich tot bin, hast Du nichts mehr von mir, dann kann ich Dich nicht mehr loben. 

«Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.» (Psalm 98,1)

Mit diesem Vers beginnt das Jubellied, das dem heutigen Sonntag: Kantate, zugeordnet ist.  Der Beter jubelt über die Hilfe, Gerechtigkeit, Gnade und Treue Gottes. Er spielt auf der Leier mit frohem Gesang.

In einem Lied von Paul Gerhardt aus dem 17. Jahrhundert klingt das so: «Ich singe Dir mit Herz und Mund, Herr meines Lebens Lust, …»

Die Kehle als Ausdruck für Vitalität

Im Alten Testament ist die Kehle das Zeichen für die Vitalität, das Begehren und Bedürfnis des Menschen. Durch die Kehle hindurch werden dringliche Bitten wie fröhliches Singen zum Ausdruck gebracht. Durch die Kehle gelangt das Innere nach aussen. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Das Singen wird zur Antwort.

Spätestens hier sollte man beim Singen nicht nur an Wohlgesang denken, denn die Kehle leiht jeder Seelenstimmung ihre Stimme: «im Jodeln und Singen, im Schluchzen und Weinen, im Hecheln und Winseln, im Rufen und Schreien, im Kichern und Lachen, im Grunzen und Grölen, im Brummen, Raunen oder Summen» (S. 49) wird zum Ausdruck gebracht, was die Seele erfüllt. 

Mehr als singen

Dieses Jahr konnten die Studierenden im Haus wegen des lock down über Ostern nicht nach Hause gehen. Also haben sie hier Ostern gefeiert. Weil das Wetter so schön war, im Garten. Der liebevoll und üppig gestaltete Osterbrunch zog sich über Stunden hin: ein bisschen essen, ein bisschen reden, dann wieder essen, dann lachen, dann wieder essen. Später wurde der Ghettoblaster in den Garten gezügelt. Erst wurden die Ungeübten unterrichtet, dann gab es Gesellschaftstänze. Als es dämmerte wurde ein Osterfeuer entfacht. Bis in die Nacht wurde gefeiert. Es war nicht so geplant, es ist passiert. Die Studierenden hatten sich selbst überrascht.

Am nächsten Tag bekamen wir ein empörtes Mail über die österliche Ruhestörung. Stimmt, wir wurden mit Musik beschallt, die wir nicht selbst gewählt hatten. Stimmt, der Rauch zog in die offenen Fenster. Das habe ich auch gemerkt. Aber ich liess es mir gefallen. Denn für mich passte der Ausdruck gemeinsamer Lebenslust zu Ostern. Ob das die Nachbarin angefochten hat?

Wir haben ein Problem mit dem öffentlichen Raum. Nicht erst seit Corona habe ich das Gefühl, dass jede Form von Extrovertiertheit zum Störfaktor wird.

Dass jede Ausgelassenheit schon beinahe peinlich wirkt. Dabei gehört es doch zu uns, dass wir das, was in uns lebendig ist, im Aussen zum Ausdruck bringen. Wenn das Innere, das Vitale nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden kann, ist es dann überhaupt noch im Inneren da? Oder sind wir schon zu viele, als dass das noch drin läge?

Vielleicht war es ja jetzt so lange still, dass wir uns wieder über lebendigen Lärm freuen und ihn anders hören können. Auf alle Fälle sollten wir unsere «Verbote» dringend überdenken.

 

Das Zitat wie die Aussagen über das Mundöffnungsritual und die Kehle stammen aus: Silvia Schroer, Thomas Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005.

 

Photo by Jason Rosewell on Unsplash

1 Kommentar zu „Kantate! Singt!“

  1. Angela Wäffler-Boveland

    Danke für diesen Beitrag! Mir aus der Kehle gesprochen!
    übrigens: wer singt, kann tief durchatmen, und mindestens mir hilft es in Paniksituationen tief durchzuatmen: das beruhigt Herzrasen, schweissnasse Hände und Gedankenkarussells.

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