Die Videoaufnahmen aus dem Kiewer Vorort Butscha haben eine Schockwelle ausgelöst: vom Fahrrad geschossene Bürger, massakrierte Fussgänger, zerfetzte Gesichter. Ein Massaker an unschuldigen Zivilisten, mutmasslich verübt auf offener Strasse. Die Jablonska-Strasse ist schon jetzt eine Chiffre des Grauens, ein neues Guernica.
Bilder von Leichen in den Medien zu zeigen, war lange Zeit tabu. So habe ich es noch in der Journalistenausbildung gelernt. Tote sollten vor zudringlichen Blicken geschützt werden. Mit dem Medienwandel und allgegenwärtigen Smartphones hat sich das radikal geändert.
Kriege zeigen inzwischen ihr ungeschminktes, archaisches Gesicht. Noch bei den Irakkriegen war dies anders: Damals herrschten zumindest in westlichen Medienberichterstattungen Simulakren eines technisch-präzisen, modernen Kriegs mit einem angeblichen Minimum ziviler Opfer vor.
Zusammen mit Satelitenaufnahmen und Zeugenaussagen ergibt sich eine erdrückende Beweislast für das Massaker in Butscha. Und doch wird es voraussichtlich keine letzte Gewissheit geben, dass der Tathergang genauso gewesen ist, wie Dronenaufnahmen es nahelegen. Dies ist bedrückend und liegt daran, dass wir Videobeweisen insgesamt immer weniger Glauben schenken.
Deep Fake verstärkt Desinformation
Erst zwei Wochen liegt es zurück, da tauchte in Sozialen Medien ein stark manipuliertes Video auf, in dem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Landleute aufrief, die Waffen niederzulegen. Hackern war es gelungen, das sogenannte Deep-Fake-Video in einer ukrainischen Nachrichten-Website zu platzieren. Der Präsident war gezwungen, zu dementieren. Dabei war es nicht einmal eine besonders überzeugende Fälschung.
Aber selbst ein schlecht gemachter Fake – kostenlose Face-Swap-Apps und ähnliches machen heute alle zu potenziellen Fälschern – kann gut genug sein, um Raum für Zweifel zu schaffen; und im Kriegsfall, die «Nebel des Krieges» weiter zu verdichten.
Fälscher bezwecken exakt dies: die Stiftung von Verwirrung. Interessanterweise ist das Stiften von Verwirrung genau dasjenige, was in religiösen Weltbildern als «teuflisch» bezeichnet wird. Die Echtheit von Videos mit Selenskyj und anderen Politikern gerät insgesamt in Zweifel. Spricht Selenskyj diese Sätze vor ausländischen nationalen Parlamenten tatsächlich oder werden sie ihm von seinen Feinden in den Mund gelegt? Lebt er überhaupt noch?
Es ist relativ leicht zu behaupten, dass ein Video gefälscht ist, schwieriger ist es, die Authentizität zu beweisen.
Die Beweislast verlagert sich zunehmend auf die Urheber von Bild- und Nachrichtenmaterial. Zu Butscha kursieren in Sozialen Medien eine Menge Zweifel. Leichen sollen im Closeup angeblich Hände bewegen oder sogar aufstehen.
Eine Zunahme von Zweifeln kann als Fortschritt im kritischen Bewusstsein angesehen werden. Die Kehrseite ist: Auch echten Belegen wird nicht mehr vertraut. Die Bereitschaft, Informationen zu glauben, nimmt insgesamt ab, selbst wenn seriöse Medien sie verbreiten. Kommunikationspsychologen sprechen von einer Lügendividende. Hinzu kommt: Falschnachrichten verbreiten sich nachweislich schneller und weiter.
Vom Zweifel zum falschen Glauben
Der amerikanische Philosoph und Computerwissenschaftler Don Fallis beobachtet eine Abnahme an Information. Videos enthielten heute weniger Information als früher. Wir sehen und erfahren also paradoxerweise immer mehr, aber wissen zunehmend weniger. Anstelle eines Erkenntniszuwachses setzt sich oft sogar ein falscher Glaube fest.
Die Funktion von Fernmedien sei es, uns wie durch ein Fenster blicken zu lassen. Wenn das Vertrauen in den Informations- und Wahrheitsgehalt von Bildern und Nachrichten schwinde, verkleinere sich auch unsere Möglichkeit, uns in der Welt zu orientieren. Im schlimmsten Fall erodiere die Unterscheidungsfähigkeit von echt und fake. Es droht eine Infocalypse.
Vielleicht kann man Deep Fake auch so verstehen: Ein tiefes Vertrauen geht verloren, wie wenn im Fall von Untreue der Glaube an die Liebe beschädigt wird.
Irgendetwas zerbricht in der Tiefe und was wir täglich zu sehen und hören bekommen, erscheint nur noch fragwürdig. Gerade das Authentische weckt die grössten Zweifel.
In seinem jüngsten Roman «Vernichten» schildert der französische Schriftsteller Michel Houellebecq das Auftauchen mysteriöser Deep-Fake-Animationen. Ein Video zeigt, wie der französische Wirtschaftsminister in einer bedrückend echt wirkenden Szene guillotiniert wird. In anderen Filmbotschaften wird ein chinesischer Frachter zerstört oder ein Flüchtlingsboot torpediert.
Geheimdienstmitarbeiter, die das brisante Videomaterial untersuchen sollen, staunen über extrem ausgefeilte Spezialeffekte. Dahinter stecken gigantische Leistungen von Rechenmaschinen, die die Kunst des Deep Learning beherrschen. Die Urheber der potenziell Aufruhr stiftenden Videos werden nicht gefunden.
Houellebecqs Roman spielt in einer nahen Zukunft, im Jahr 2027, als selbst Experten gut gemachte Deep-Fake-Videos nicht mehr von realem Filmmaterial unterscheiden können. Die glücklichsten Menschen in dem tief-melancholischen Roman sind interessanterweise spirituelle und religiös-tiefgläubige Menschen.
Glauben gegen den Augenschein
Tiefgläubige Menschen brauchen keine Videobeweise. Sie glauben gegen alle Logik. Lazarus war tot und auf einmal ist er wieder lebendig; Jesus wurde gemartert und ermordet und dann ersteht er von den Toten wieder auf; das Grab war belegt und plötzlich ist es leer etc. Es ist, als würden Videos verkehrt herum abgespielt. Die Jesusgeschichte ist das Gegenteil von Butscha, wo Gewaltopfer die Augen nicht wieder öffen.
Das religiöse Narrativ wirkt wie der Supergau für jegliches sinnvolle Inbeziehungsetzen von Bildern und Erfahrungsrealität. Und tatsächlich begleiten das Christentum von Anfang an Zweifel und der Verdacht der Täuschung.
Die Verkörperung des Zweifels schlechthin ist der Antichrist, der falsche Christus, der dem Erlöser zum Verwechseln ähnlich ist: eine Art Deep Fake.
Hätte es vor 2000 Jahren schon Videobeweise und Satelitenbilder gegeben, wären sie wahrscheinlich erbracht worden. Ich glaube aber, solche Belege hätten nichts an der grundsätzlichen Glaubensbereitschaft geändert, weil sich der Glaube auf etwas Stärkeres stützt als Belege: das unbedingte Vertrauen in die göttliche Quelle und Urheberschaft, aus der heraus sich alles andere ergibt: Hoffnung, Sinn, Zuversicht – obwohl diese Welt ist, wie sie ist.
Aus religionsskeptischer Perspektive handelt es sich um falschen Glauben, Torheit, blindes Vertrauen und eine Zunahme an Desinformation und epistemischer Verwirrung, aus gläubiger Sicht schlicht um ein Wunder.
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3 Gedanken zu „Ist der Antichrist Deep Fake?“
Sehr gute und inspirierende Gedanken zu einem Thema, das uns in Zukunft sicher noch stärker beschäftigen wird!
Danke!
Danke Jan, für den netten Kommentar! 🙂 Ich hoffe auf Deep Learning im Umgang mit der verwirrend vielfältigen Medienlandschaft. Eigentlich hätte ich Manus eingehende Untersuchung des Verschwörungsdenkens aus der Anfang der Coronazeit – erschienen auf RefLab – verlinken sollen. Z.B. https://www.reflab.ch/verschwoerungstheorien-teil-3-eine-bauanleitung/
Fake News sind eine normale Erscheinung, zu allen Zeiten und in allen Kulturen, Corona lässt grüssen. Der Kampf in Europa läuft an verschiedenen Fronten und wir sind mitten drin, auch die Ukraine setzt das Mittel «Fake News» ein. Aber das Muster ist klar: Putins blutige Spur zieht sich von Tschetschenien über Georgien und Syrien nach Europa. Wer möchte in einem Regime leben, das auch das eigene Volk mit brutaler Gewalt unterdrückt. Eine unmenschliche Kriegstaktik einsetzt, die in totaler Vernichtung – Frauen und Kinder als taktische Ziele angreift und massakriert und alle Infrastrukturen inklusive Spitäler zerstören – mündet. Hinterhältiger und übler geht es kaum, der absolute Terror. Und erschreckend wie schnell Menschen zu Monster (gezwungen) werden. Gesunder Menschenverstand und eine umfassende Information sind mein Gegenmittel. Hirn einschalten und selber denken! Europa muss zusammenrücken, wir Schweizerinnen und Schweizer müssen zusammenrücken, dieser brutalen Bedrohung müssen wir gemeinsam und entschlossen die Stirn bieten. Hilfsbereitschaft, Ethik, Mitgefühl, Demut, Glauben, Spiritualität UND Kampfbereitschaft schliessen sich nicht aus. „Den Schwanz einziehen“ geht nicht mehr, alles hat seinen Preis. Nein, wir müssen bereit sein, wir müssen alles geben und mutig unserer Angst ins Auge schauen. Menschen zerbrechen und Menschen wachsen an den grossen Herausforderungen im Leben.