Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
 Lesedauer: 4 Minuten

Himmelfahrt des Vögelchens

Die erste Twitter-Meldung, an die ich mich erinnere, stammt von einem Kollegen F. Er zählte in den Nullerjahren zu den Pionieren des seit 2006 existierenden Microbloggingdienstes.

«Was tweetet F.?», wollte ich von meinen Kollegen wissen: Antwort: «F. sitzt in der Markthalle und twittert: ‹Ich sitze in der Markthalle›.»

Damals haben wir darüber gelacht. Weil uns das so unglaublich dumm vorkam. Heute, im Schatten des bösen X, erscheint mir diese sinnfreie Spielerei wie eine Erinnerung an eine Vergangenheit, die es vielleicht nie gab: Die Fantasie von einer Silicon-Valley-Stimmung steigt auf und von einer frohgemuten Aufbruchsphase. Als man Dinge erfand, von denen man noch nicht wusste, was man damit anfangen sollte. Sinnfreie Dinge, mit denen man sinnfrei spielen konnte.

Ich suchte nach dem kleinen x, um das große X wegzuklicken.

Der Tag X

Vor ein paar Tagen war das himmelblaue App-Logo plötzlich wie weggewischt. An seiner Stelle erscheint seither ein rabenschwarzes Quadrat mit einem weissen X. Mein erster Gedanke:

«Was ist das? Wie klicke ich das weg? Das habe ich nicht abonniert!»

Ich suchte nach dem kleinen x, um das große X wegzuklicken. Und dann merkte ich, dass der blaue Vogel verschwunden war. Der Tag X war angebrochen.

Abgeschossener Piepmatz

Ein wenig vermisse ich den blauen Twitter-Vogel. Erst das böse X machte mir klar, dass ich den kleinen Piepmatz irgendwie liebgewonnen hatte.

Der Twitter-Vogel hatte etwas piepsig Süsses, optimistisch Stimmendes. Er machte gute Laune.

Auch die Verbindung von Technik und Natur gefiel mir. Wie der angebissene Apple-Apfel. Ich hatte das Vöglein gern auf meiner Smartphone-Oberfläche.

Mutete das Vögelchen harmlos-freundlich an, so wirkt das stahlharte X auf mich dagegen kalt und abweisend. Fast aggressiv. Wie gekreuzte Schwerter. Fehlt nur noch der Totenkopf.

X ray, bedeutet Röntgen. Werden wir als Social-Media-User:innen nicht permanent geröntgt?

Wieso überhaupt ein X? Musk hat bekanntermassen ein Faible für diesen Buchstaben. Sein Raumfahrtunternehmen heisst SpaceX. Und Twitter hatte er schon vor einer Weile in X Corp. umgetauft.

X steht auch für Erlöser

Als Andreaskreuz bezeichnet das X den Märtyrer und war ein frühchristliches Erkennungszeichen.

Das griechische Chi (X) symbolisiert den christlichen Erlöser. Twittereigentümer Elon Musk – ein Erlöser?

Klar, es macht wenig Sinn, Konzernlogos mit Interpretationen zu überfrachten. Zumal Musk davon spricht, dass es sich vielleicht nur um ein Interims-Logo handelt.

Ich bin also gegen X und für das Vögelchen. Aber wenn ich ehrlich bin: Trifft das X den Geist der Plattform nicht doch besser? Dient Twitter nicht allzu oft dazu, mit Hassbotschaften Emotionen anzuheizen und Menschen zu manipulieren?

Ergriffene Nachrufe

Und mehr noch: War Twitter jemals so flauschig, wie sein Logo es verhiess? Fröhliches Gezwitscher, wie es das englische Wort «twitter» nahelegt, mag für die Anfangsphase gepasst haben. Aber schon sehr schnell hatte sich der Kanal mit allen möglichen Agenten gefüllt, die die Plattform für kommerzielle, politische und ideologische Zwecke instrumentalisieren. Liegen also all jene falsch, die dem Twitter-Vögelchen ergriffene Nachrufe widmen?

«Ciao blauer Vogel. Es war schön mit Dir. Flieg nicht zu hoch, mein kleiner Freund».

«Es war eine schöne Zeit, kleiner blauer Vogel, als wir noch alle gleich waren, uns keine Bezahlhaken voneinander trennten, keine Beschränkung für Menschen, die nicht bereit waren dafür zu zahlen.»

«Du fehlst mir sehr, kleiner blauer Vogel!

«Ruhe in Frieden #TwitterBird»

Das Paradies taucht bekanntlich erst mit seinem Verlust auf. Erst im Verlust erkennen wir, was wir zuvor kaum bemerkt haben.

Das Vöglein lebt!

Was ich damals als Gipfel der Sinnlosigkeit deutete, (Mann sitzt in der Markthalle und twittert: ‹Ich sitze in der Markthalle›) erscheint mir im Rückblick, verglichen mit dem heutigen Stahlgetwitter, als fast schönes, weil zweckfreies Gezwitscher.

Vielleicht sollte man weniger danach fragen, ob die Vorstellung eines heiteren, spielerischen Twitter jemals angemessen war. Und stattdessen die Fantasien, die mit dem Ende des Twitter Vogels wach werden können, als Kraft gegen das nutzen, was uns an den neuen Tech-Giganten, einschliesslich X, so abstösst.

Das Twitter-Vögelchen kann dann inspirierend werden gegen all das, was inzwischen verloren ging.

Dann ist das Vöglein nicht tot.

 

Ein Blogbeitrag von Evelyne Baumberger befasst sich aus der Perspektive einer leidenschaftlichen Unserin mit dem Phänomen Twitter.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox