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Hannah Arendt jenseits von Mythen und Männern

Für diejenigen, die sich fragen, wer Hannah Arendt ist: Das ist eine gute Frage. Die 1906 in Deutschland geborene und 1975 in New York City verstorbene politische Theoretikerin hatte viele Facetten.

Ich selbst begegnete ihr im seltsamsten aller Nebenfächer: Hermeneutik. Um ihre Texte besser zu verstehen, schaute ich mir das berühmte Fernsehinterview mit Günther Gaus von 1964 an. In dieser Interviewserie, in der Hannah Arendt als erste Frau überhaupt porträtiert wird, schlüsselt sie Teile ihrer politischen Theorie und Biografie für eine breite Öffentlichkeit auf.

Ich war sofort hingerissen von Arendts Eleganz und dem Humor, mit dem sie sprach. Ich weiss noch, wie ich mir wünschte, es gäbe heute jemanden wie sie.

Jemanden, dem es scheinbar so leichtfällt, Komplexes klar und verständlich auszudrücken, ohne dass es deswegen banal wird.

Das Archiv im Vordergrund

Die Erschliessung des vielschichtigen Denkens dieser Philosophin erfordert Zeit und Geduld. Kaum jemand ist vertrauter mit ihrem Werk als der Münchner Philosophieprofessor Thomas Meyer. Er bearbeitet und ediert seit Jahren Hannah Arendts Schriften. Nun hat er eine Arendt-Biografie veröffentlicht.

Meyer empfand es, wie er schreibt, als störend, dass über Arendt stets dieselben Legenden kursierten, während die Männer in ihrem Leben im Lauf der Zeit geschichtlich neu bewertet wurden. An der viel gelesenen Biografie der Arendt-Schülerin Elisabeth Young-Bruehl kritisiert er, dass sie sich zu sehr auf nicht belegbare, mündliche Erzählungen stütze.

Young-Bruehl hat Arendt noch persönlich erlebt und mit Menschen aus ihrem Umfeld gesprochen. Ihr Buch ist ein Standardwerk, das viele bis dahin unbekannte Facetten der grossen jüdischen Denkerin aufzeigte.

Ein feministischer und sensibler Blick

Als Feministin macht es mir grosse Freude, dass Meyer sich in seiner neuen Biografie auf Arendt als Intellektuelle konzentriert. Als Judaistin bin ich zudem begeistert, wie sorgfältig Meyer mit Arendts jüdischer Identität umgeht und wie viel Raum er ihr lässt. Denn obwohl Arendt sich nicht als religiös sah, bezeichnete sie sich, in Frankreich darauf angesprochen, als «100 % juive».

Meyer fängt die Prägungen derjenigen ein, unter denen Arendt studiert hat oder mit denen Arendt liiert war.

Dabei konzentriert er sich auf die politischen und philosophischen Gedanken, die diese Personen mitbrachten, analysiert aber auch die Machtstrukturen innerhalb der Beziehungen. So sagt er zur berühmten Affäre mit dem Philosophen Martin Heidegger – die übrigens erst durch Young-Bruehls Buch publik wurde – nicht mehr, als dass es eine ungleiche Beziehung gewesen sei.

Der fehlende Tratsch mag einige enttäuschen. Man kann diese Perspektive aber auch grossartig finden: Damit verdeutlicht Meyer, dass es weitaus Interessanteres über Hannah Arendt zu erzählen gibt als die Tatsache, dass sie Liebesbeziehungen hatte.

Kein Wunderkind

Ausserdem macht Meyer die Arbeit sichtbar, die hinter Arendts Theorien steckt. Denn häufig wird auf die Philosophin retrospektiv eine Art Wunderkind-Status projiziert. Anhand alter Schulzeugnisse und Dissertationskritiken zeichnet der Autor das Bild einer Frau, die hart arbeitete, ihre Arbeiten mehrfach überarbeitete und ihr Denken immer wieder neu formen liess.

Als Kind war Hannah Arendt häufig krank und hatte lange Zeit Privatunterricht. Erst kurz vor dem Abitur kam sie als Externe an ein öffentliches Gymnasium für Jungen – wo sie als einzige weibliche Schülerin abschloss.

An der Universität muss sie zwar aufgefallen sein, doch ihr Doktorvater Karl Jaspers kritisierte die erste Version ihrer Dissertation harsch. Sie musste die Arbeit über den Liebesbegriff bei Augustinus teilweise grundlegend überarbeiten. Dass sie sich dem Kirchenvater überhaupt aus philosophischer Sicht näherte, sorgte ebenfalls für Kritik.

Auch ihre mündlichen Abschlussprüfungen fielen eher zufriedenstellend als grossartig aus. Hannah Arendt, die Überfliegerin: Fehlanzeige.

Auch nach dem Doktorat ging es bei ihr zunächst nur schleppend weiter – sowohl aus finanziellen Gründen wie aus politischen: Denn Hannah Arendts Start ins Berufsleben fiel zusammen mit der voranschreitenden Machtübernahme der nationalsozialistischen Bewegung.

Erst durch Männer (!), die ihr Empfehlungen schrieben, erhielt Hannah Arendt Gelder für ihr Forschungsprojekt. Darin ging es um die Liberalisierung des Judentums und Antisemitismus am Beispiel von Rahel Varnhagen.

Eine widerständige Kämpferin

Beeindruckend früh war Arendt klar, dass der Nationalsozialismus Überhand nehmen würde. So emigrierte sie nach Paris, wo sie wissenschaftlich arbeitete, bald aber eine Arbeit bei «Agriculture et Artisanat» annahm, um sich finanziell über Wasser zu halten. Diese Organisation bildete Jugendliche für die Landarbeit aus und half ihnen, nach Palästina zu emigrieren («Alijah»).

Dass Meyer ihre Zeit in Frankreich so genau untersucht, ist Kernstück seiner Arendt-Biografie. Die Recherchen zeigen, dass Arendt zwar im Rahmen ihrer Arbeit bei «Agriculture et Artisanat» mit verschiedenen weiblichen Grössen ihrer Zeit zu tun hatte – beispielsweise mit der Zionistin Henrietta Szold oder mit Germaine Halphen und Gabrielle Nelly Régine Beer, letztere ein Spross der Rothschild-Familie.

Als Neue in diesen Kreisen hatte Arendt jedoch keinen leichten Stand. Anfänglich wurde sie bei Aufträgen übergangen, musste sich beweisen und Misstrauen beseitigen.

Meyer beschreibt den Druck, unter dem Arendt handeln musste und wie sie versuchte, für jüdisches Leben einzustehen.

Die Biografie zeigt eine unermüdliche Arendt, die durch Europa und auch nach Palästina reiste, die ihr Möglichstes tat, um Gelder und Unterstützer:innen für ihre Arbeit zu finden und die Umstände aktiv handelnd zu bewältigen.

Durch und durch intellektuell

Sie unterschied nicht, ob sie wissenschaftlich oder praktisch arbeitete – ihre Haltungen und Motive, die sie in ihren Forschungsarbeiten vertrat, leiteten auch ihre politische Arbeit in Frankreich. Anhand ihrer Berichte und Briefe macht Meyer erkennbar, dass Arendts Arbeit aus tiefen intellektuellen Überlegungen heraus geschah.

Mit dieser Herangehensweise zerteilt er Arendt nicht in verschiedene Phasen und Stationen ihres Lebens. Sondern er zeigt, wie vieles an unterschiedlichen Orten immer wieder zusammenfloss und auch Arendt vieles zusammen dachte, das auf den ersten Blick kaum einen Zusammenhang hat.

So argumentierte sie bereits im Buch über Varnhagen, dass die Lösung für ein freies, jüdisches Leben nicht in der Assimilation an ein Europa lag, dessen christliche Geschichte Jüdinnen und Juden als «Pariah» nicht teilten.

Vielmehr – und dafür setzte sie sich auch in ihrer Arbeit in Frankreich ein – sah sie die Gründung eines jüdischen Staates als Lösung, um Jüdinnen und Juden ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Jenseits des Mythos

Wie vielschichtig die Philosophin war und dachte, zeigt der Biograf auch an weiteren Lebensstationen auf: ihrer Flucht nach Lissabon, die Reise in die USA und der Aufbau eines neuen Lebens in der Emigration.

Im Exil arbeitete Arendt erneut wissenschaftlich, publizierte und erlangte mit kontroversen Thesen wie der «Banalität des Bösen» mediale Berühmtheit (hierzu interessant ist die Mindmaps-Folge «Wie erklärt sich das Böse?»).

Meyer schafft es, hinter den Mythos Hannah Arendt zu blicken. Er porträtiert sie als Mensch mit vielen Facetten – auch als Frau, die sich im intellektuellen «Boys Clubs» der Philosophen behauptete. Dieser Blick ist berührend.

Meyers Buch ruft in Erinnerung, dass hinter der Grösse «Hannah Arendt» eine kämpferische Frau steckt, die unerschrocken ihren Platz am Tisch einforderte und ihre Stimme erhob, auch oder gerade, wenn es unbequem war.

Das macht sie für mich zu einem grossen feministischen Vorbild. Und das obwohl Arendts eigenes Verhältnis zum Feminismus ausgesprochen komplex war. Meyer geht auch darauf in seiner Biografie ein.

Fehlende Zugänglichkeit

Während ich Meyers Ansatz, Hannah Arendt zu betrachten, äusserst erhellend finde, gelingt es ihm meiner Meinung nach unzureichend, ihre Philosophie verständlich zu machen. Zudem ist seine Arendt-Biografie ungemein voraussetzungsreich.

Der Autor, der mich zum 100. Mal über Arendt staunen lässt, macht Arendt leider schwer zugänglich für Newbies.

Freude werden am Buch deshalb alle haben, die Arendts Theorien bereits schätzen und vor verschachtelten Sätzen nicht zurückschrecken.

Im Grundlegenden bin ich jedoch einig mit Thomas Meyer: Es lohnt sich bis heute oder vielleicht gerade heute, Hannah Arendt neu zu erschliessen. Insbesondere ihre Gedanken zum Judentum in der Moderne, zur Rolle von Jüdinnen und Juden in der europäischen Geschichte, zum modernen Antisemitismus, zur Frage nach dem Bösen und zu totalitärer Herrschaft sind immer noch hochaktuell.

Meyer, Thomas (Piper 2023): Hannah Arendt

Für Newbies: Einen wesentlich sanfteren, popkulturellen Einstieg zu Hannah Arendt bietet die Graphic Novel von Ken Krimstein.

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