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Greta Unser

Ganz egal ob in der Tagesschau, den Tageszeitungen oder in meiner Twitter-Timeline: Greta ist allgegenwärtig. Noch vor einem Jahr (!) kannte ich ihren Namen nicht. Heute ist sie das Gesicht vom WEF, das noch gespannter erwartet wird, als der US-Amerikanische Präsident mit Entourage. Sogar was sie nicht tut, ist eine Schlagzeile wert. Die NZZ berichtet beispielsweise in einem längeren Artikel, dass Greta am vergangenen Sonntag nicht an der Winterwanderung von Landquart nach Davos teilgenommen hat.

Greta ist ein aufmerksamkeitsökonomisches Phänomen

Als sie letztes Jahr, erschöpft von ihrer langen und mühsamen Anreise, zerbrechlich aber entschlossen, den Medien Rede und Antwort stand und dabei erklärte in einem Zelt zu übernachten, fand ich das faszinierend. Und noch als sie mit diesem apokalyptischen Ton verkündete: „Our house is on fire!“ und einen neuen Massstab für unsere Wirtschaft forderte, hätte ich kein Geld darauf gewettet, dass sie ein Jahr später berühmter sein würde, als jetzt. Worin sollte ihr Newswert bestehen? Was sie sagt, ist nicht neu. Und im Verlauf des letzten Jahres sind auch keine umstürzend neuen Fakten dazugekommen. Weshalb interessieren sich alle für Greta?

Was sie sagt, ist nicht neu. Und im Verlauf des letzten Jahres sind auch keine umstürzend neuen Fakten dazugekommen. Weshalb interessieren sich alle für Greta?

Greta ist eine Story

Greta ist nicht nur ein Mensch. Greta ist eine grossartige Story. Sie verkörpert die Geschichte eines Mädchens, das sich 2018 am ersten Schultag nach den Ferien alleine mit dem Schild „Skolstrejk för klimatet“ vor den Schwedischen Reichstag gestellt hat. Gut zwei Wochen tat sie das täglich, nach der Reichstagswahl nur noch freitags. Zwar berichteten ein paar Medien über sie, aber ihr Twitteraccount war wenig beachtet. Aber plötzlich entwickelte sich dieser Streik zu einer internationalen Bewegung. In Australien, Dänemark, Belgien, Frankreich und Finnland streikten Schüler*innen freitags. Politiker*innen reagierten mit Häme: Die sollen in den Unterricht, wenn sie einst Verantwortung übernehmen wollen.

Politiker und Wirtschaftsführer

Politiker und Wirtschaftsführer – es waren ganz überwiegend Männer – diskreditierten Greta auf Twitter oder in den Medien mit Verweis auf ihr Asperger-Syndrom, ihr Alter und natürlich ihr Geschlecht. Auf der Sachebene mochte sich kaum jemand mit ihr auseinandersetzen. Höchstens auf der Metaebene: Zu apokalyptisch, zu pessimistisch, zu wenig lustvoll und positiv. Dadurch wurde Greta nicht unglaubwürdiger. Im Gegenteil: Wer eine 16-jährige so angreift, kann selbst nicht ganz bei Trost sein.

Wer eine 16-jährige so angreift, kann selbst nicht ganz bei Trost sein.

Die Wahlen in Deutschland (Europawahl) und der Schweiz (Parlament) waren für einmal nicht geprägt von den grossen Themen aus dem rechten politischen Spektrum, sondern von der Sorge um die Zukunft der Menschheit auf diesem Planeten. Und plötzlich haben ganz viele begeistert politisiert, denen man noch Wochen zuvor Politikverdrossenheit vorgeworfen hatte. Auch sie sind ein Stück Greta und haben an dieser Mega-Story mitgeschrieben.

Klimajugend als Religion

Immer wieder schreiben Leute, dass die Klimabewegung religiöse Züge angenommen habe, dass Greta eine Prophetin sei, dass Fridays for Future sich als Religion inszeniere. Das ist – mit Verlaub – in einer Zeit der Religionsmüdigkeit und -Skepsis ein etwas plumper Versuch: Offensichtlich soll die Bewegung, die sich nicht vereinnahmen oder politisch zuordnen lässt, in den Bereich des Irrationalen, Kindlichen und Naiven abgeschoben werden. Oder es ist die religiöse Hoffnung, von diesem Aufbruch irgendwie zu profitieren.

Mehr als Religion

Aber um Religion geht es gerade nicht. Es geht vielmehr um etwas, wovon alle grossen Religionen, Ideologien, Visionen und Reformen immer gelebt haben: Um eine grosse Story. Der Underdog kämpft, wird verspottet, ringt mit sich und der Welt. Und wir Beobachter*innen erhalten Identifikationsmöglichkeiten: Moses vor dem Pharao, David gegen Goliath, Jesus am Kreuz, Greta am WEF. Und solche Bilder, Erzählungen und Symbole provozieren uns dazu, selbst Stellung zu beziehen. Entweder sich zu solidarisieren oder sich zu distanzieren. Beobachter*in kann man schlecht bleiben. Das erklärt das Feuer für diese Held*innen und auch den Hass, den sie abbekommen.

Greta ist keine Prophetin. Greta ist die Frage an dich: Wenn sie das kann, wie kannst du dann unbeteiligt bleiben? Nicht glauben, dass du etwas bewegen und verändern kannst? So haben auch die grossen, alten Religionen angefangen. Aber Religionen – wenn sie mehrere Generationen übergreifen und durch Jahrhunderte tradiert werden – müssen das Feuer, das sie angesteckt hat, konservieren.

Aber Religionen – wenn sie mehrere Generationen übergreifen und durch Jahrhunderte tradiert werden – müssen das Feuer, das sie angesteckt hat, konservieren.

D.h. sie müssen ihren Kern symbolisch darstellen. Die Schauer, die den Jünger*innen über den Rücken gelaufen ist, bei den Worten: „Dies ist mein Leib.“ oder „Dies ist mein Blut.“, wer spürt sie noch? Darum ist vielleicht vor allem das wahr: In der Klimabewegung spüren Religionen den Unterschied zwischen dem, was sie ausmacht und dem, was sie sind.

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