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Geregelte Freiheit

Ist es oke, wenn ich noch rasch in die Migros gehe, weil uns die Limetten für die Guacamole fehlen? Darf ich mein Kind mit Kindern spielen lassen, von denen ich weiss, dass sie auch andere Kinder treffen? Wahrscheinlich eher nicht. Aber soll man z.B. seine alleinstehende Mutter besuchen, um ihr beim Putzen zu helfen und sie vor zersetzender Einsamkeit zu schützen? Soll man das Homeoffice verlassen, für ein heikles und dringendes, nicht-Zoom-taugliches, Personalgespräch? Soll man das Kind einer Ärztefamilie hüten, auch wenn da schon vier andere Kinder sind? Vielleicht schon.

Abschätzungen und Einschätzungen

Dass wir Folgen schlecht abschätzen und Situationen falsch einschätzen können, verunsichert. Ich hätte nie gedacht, dass so viele Menschen sterben, dass Teile der Wirtschaft zum erliegen kommen, dass ich jetzt zusammen mit meinen Kindern im Homeoffice sitze. Ich habe das Corona-Virus völlig unterschätzt! Ich habe es nicht kommen sehen. Weil ich kein Konzept habe für eine Pandemie. Ich glaube, das geht grad vielen so. Und darum sehnen sich manche von uns nach klaren Regeln: Einkaufen darfst du einmal pro Woche. Elternbesuch nur wenn nötig und immer durch dieselbe Person. Die trägt Mundschutz, Gummihandschuhe und Überzieher. Kinder von Ärzten darf man betreuen. Aber nicht mit mehr als zwei anderen Kindern gleichzeitig… Andere haben Angst vor einer solchen Kasuistik: Was werden wir sein, wenn das vorbei ist? Wo bleibt unsere Freiheit? Wird der Staat je aufhören unsere Mobilfunkgeräte zu überwachen? Ist das alles erst der Anfang zu einer illiberalen Gesellschaft?

Keine «Corona-Skeptiker»

In dieser Bredouille vertrauen die meisten von uns den Expertinnen und Experten. Das ist gut so! Sachlichkeit, Fakten und Informationen haben Hochkonjunktur. Trump und Johnson werden endgültig als die  Witzfiguren demaskiert, die sie schon vorher waren. Letzterem auf diesem Weg trotzdem und ironiefrei: Gute Besserung! Von der AfD spricht keiner. (Ausser diejenigen, die erfreut feststellen, dass niemand über sie spricht.) Die ideologischen Gräben sind abgeflacht. Es gibt auch keine – mindestens in unserem Parlament! – echten «Corona-Skeptiker». Es gibt verschiedene Prognosen und Lösungsansätze. Die ökonomischen Folgen werden unterschiedlich eingeschätzt. Aber allen ist klar: Jetzt hören wir den Expert*innen zu und nicht Roger Köppel, Martullo-Blocher oder Xavier Naidoo.

Die Regel lebt von der Ausnahme

Carl Schmitt – einer der «grossen Ja-Sager von 1933» – hat gesagt: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.» Die Regel lebe von der Ausnahme. Sie «durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in der Wiederholung erstarrten Mechanik.» (Politische Theologie, 6. Auflage, 21) Kann gut sein. Ganz anders, als Schmitt sich das gedacht hatte, zerbricht unsere Gesellschaft aber gerade nicht an ihrem liberalen Kern. Im Gegenteil: Die liberale Gesellschaft zeigt sich jetzt lebendig. Sie setzt nicht auf einen Führer. Sie bewältigt die Krise arbeitsteilig zwischen politischen Verantwortungsträger*innen, Expert*innen und einer Zivilgesellschaft, die versucht all das aufzufangen, was sich nicht regeln lässt.

Das macht Hoffnung, für die nächsten Themen, die anstehen: Die Altersvorsorge, die Klimakrise und die Digitalisierung mit ihren Folgen für das, was wir Erwerbsarbeit nennen.

Und natürlich gehe ich jetzt keine Limetten kaufen. Nicht weil das jemand verbietet. Sondern vor allem deswegen. In Freiheit hilft man gerne mit und sei es, dass man es macht wie Pumuckl: Der hat Meister Eder am meisten geholfen, in dem er ihn nicht gestört hat.

 

Photo by Ivan Bertolazzi from Pexels

7 Kommentare zu „Geregelte Freiheit“

  1. Wir sollten auch darauf achten dass junge Menschen nicht allzu sehr diskriminiert werden. Nicht nur damit ihre Entwicklung (inkl. Ausbildung eines gesunden und künftig auch eher SARS-resistenten Immunsystems) zu stark eingeschränkt wird. Wenn wir jetzt extrem Ressourcen einsetzen um ältere und andere besonders krankheitsanfällige Menschen zu schützen, geht das auch ganz besonders auf Kosten und/oder Nutzen der späteren Generationen. Wir sollten versuchen, alle relevanten Faktoren zu bedenken und abzuwägen, auch wenn sogar das, was aktuell abläuft, nur hypothetisch veranschlagt werden kann… Mut und Zuversicht ist zwar kein Allheilmittel, kann im Gegensatz zu Resignation aber Resilienz und Bereitschaft zur kreativen Bewältigung schwieriger Situationen fördern.

    1. Jemand den ich kenne hat mal gesagt, eines seiner Lebensmottos sei: „Könnte es auch anders sein?“ In der heutigen, für alle sehr anspruchsvollen Zeit, ist durch die einschneidenden Massnahmen eine konstruktive Debatte gar nicht mehr möglich. Für Viele ist dies auch gar nicht nötig. Denn die Zahlen sprechen ja für sich. Und wir hören ja auf die Expertinnen und Experten. Nur – wer sind denn nun genau die Expertinnen und Experten? Denn ihrer sind Viele! Und wer hat überhaupt noch den Überblick und die Fähigkeit, die veröffentlichten Zahlen zu überprüfen und zu verifizieren? Darf man solche Fragen in solch dramatischen Zeiten überhaupt stellen? Und was heisst denn nun „think differently“ in diesem Zusammenhang genau? Zwei Staatsmänner als Witzfiguren hinzustellen und andersdenkende Politiker oder Prominente zu diffarmieren zeugt für mich nicht von differenziertem Denken, wie wir es uns in unserer föderalistischen, demokratischen Schweiz gewohnt sind, sondern ist für mich reine Meinungsmache. Bleiben Sie bitte sachlich und in der Thematik professionell.

      1. Naja, Staatsmänner hatten wir schon viele, die nicht besonders staatstragend waren, oder? Lieber mit Fakten? Johnson hat seine Position zur Corona-Krise zweimal, Trump mindestens dreimal komplett geändert. Das zeugt nicht von der nötigen Umsicht und Verantwortungsübernahme, sondern zeigt, dass die beiden versuchen, „dem Volk“ nach dem Mund zu reden.
        Wichtig finde ich aber den ersten Punkt: Ja, es muss irgendwann (bald) auch wieder fertig sein mit der Verwaltungsregierung durch ExpertInnen. Wir brauchen sie. Aber als Teil der politischen Wegfindung, als FaktenlieferantInnen, nicht (mehr) als Entscheider.
        Herzlich, Stephan

        1. Nun, lieber Stephan, ich gehe mit Dir einig, dass sowohl Trump, als auch Johnson ihre Meinungen zum Virus mehrfach geändert haben. Mit Johnson habe ich mich bislang noch zuwenig befasst. Bei Trump vermute ich eine gewisse Strategie. Ein Kalkül hinter der ganzen Sache. Wozu sollte er sich sonst zu einer solchen Aussage hinreissen lassen wie: „Wenn wir am Ende 100’000 Tote haben, haben wir einen guten Job gemacht“. Er scheint das ganze in einem prozentualen Verhältnis zu betrachten… Vergessen wir dabei aber nicht, dass Mr. Corona, Daniel Koch vom BAG, seine gestellten- und nicht eingetroffenen Prognosen auch korrigieren musste. Ich schreibe etwas provokativ, gell? Ist aber in keiner Weise persönlich oder böse gedacht. Ich möchte nur die Möglichkeit einer anderen oder weiteren Sichtweise in Betracht ziehen.

          Wir Christen sind ohne Weiteres bereit, uns unserer Obrigkeit unterzuordnen. Und wenn sie dabei Fehler macht – es sei ihr verziehen. Geht es dabei aber um eine „fremde“ Regierung, sieht die ganze Sache schon wieder ganz anders aus. Die Bibel lehrt uns in den 10 Geboten, kein falsches Zeugnis gegen unseren Nächsten zu reden und Christus lehrt uns, nicht nur unseren Nächsten, sondern gar unsere Feinde zu lieben! Hmmm… Schau, ich bin kein ausgesprochener Trump-Fan. Aber kürzlich las ich ein Zitat, in dem es sinngemäss darum ging, dass wenn jemand so oft und so heftig kritisiert wird, wie z.B. Donald Trump, dann muss er scheinbar doch irgendwo etwas richtig machen.
          Es ist für mich auch klar und unbestritten, dass ich mich in diesen heiklen, medizinischen Fragen auf Fachleute verlassen können muss. Aber ich gebe deswegen nicht meinen Verstand an der Garderobe ab und höre dabei auf, selbstständig zu denken. Ich denke, die Geschichte hat und oft genug gelehrt, dass es brandgefährlich werden kann, wenn wir das Denken anderen überlassen. Ich bin auch sehr froh zu wissen, dass wir in Ignazio Cassis einen Arzt- und in Ueli Maurer einen Skeptiker im Bundesrat haben. So fühle ich mich sicher gur vertreten! 😉
          Be blessed und bleib gesund! Cheers! Matthew

          1. Lieber Matthew,
            danke für deine Nachricht. Ich finde das nicht provozierend und in manchen Teilen nachvollziehbar. Trotzdem eine Frage: Wenn Kritik ein Indiz dafür ist, dass jemand etwas richtig macht, was ist dann das Kriterium für berechtigte Kritik?
            Denn viele, die oft kritisiert worden sind, wurden zu Recht kritisiert, oder?
            Herzlich!

  2. Lieber Stephan
    Spannend, mit Dir auszutauschen. Danke. Ja, das ist eine durchaus berechtigte Frage. Aber ich finde es trotzdem einen interessanten Ansatz zu überlegen, ob der Grossteil der Medien mit ihrem fast täglichen Trump-Bashing wirklich richtig liegt. Wenn ich mich dann wiederum mit meinen amerikanischen Verwandten unterhalte, stelle ich bald fest, dass sie sich sehr dafür schämen, wie schlecht sie in der weltweiten Presse wegkommen.
    Ich weiss es nicht. Georg W. Bush wurde damals auch weltweit in Frage gestellt und medial angefeindet. Präsident Obama hat man den Friedensnobelpreis überreicht, obwohl er mehr Länder bombardiert hat als seine Vorgänger und die gezielte Tötung von Osama Bin Laden angeordnet hat. Ich bin einfach der Meinug, wir sollten wieder viel kritischer mit dem umgehen, was tagtäglich an Nachrichten, Berichten und Artikeln auf uns einprasselt. Ich war bislang auch nicht mit allem einverstanden, was die Klimajugend verkündet hat. Aber die Hartnäckigkeit, der Durchsetzugswille und die Furchtlosigkeit vor den grossen Entscheidungsträgern, rechne ich Greta Thunberg sehr hoch an. Und eine kritische Greta Thunberg-COVID19-Bewegung ist das, was uns meiner Meinung nach aktuell gerade fehlt. Menschen, die den Mut haben, gängige Aussagen und Entwicklungen kritisch zu hinterfragen und eigene Erkenntnisse und Bedürfnisse vorzubringen und öffentlich zu vertreten. So, ich schweige wieder. 🙂 Denn Schweigen und auf den Herrn harren, ist sicher nichts, was aktuell, wohl fast der klügste Weg zu sein scheint! 😉 Be blessed

    1. Lieber Matthew,
      es stimmt schon, ist gar nicht einfach, sich zu orientieren. Und wer von uns hat schon vor 6 Wochen das Ausmass der Krise richtig eingeschätzt…? Ich versuche mich dabei an das zu halten, was Menschen sagen. Watson hat eine schöne Zusammenstellung der Trump-Zitate in der Time-Line gemacht: https://www.watson.ch/international/coronavirus/335959719-coronavirus-in-den-usa-die-zahlen-und-trumps-aussagen-in-der-timeline
      Dass er falsch lag, finde ich nicht schlimm. Es weckt natürlich schon Fragen, wie er dermassen entschieden falsch liegen konnte. Aber schlimm finde ich, dass er nach wie vor vorgibt, alles immer im Griff gehabt zu haben und alles immer richtig gemacht zu haben.
      Bleib gesund, herzlich!

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