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Frontex ja, Frontex nein?

Gegründet wurde Frontex (abgeleitet von «fronts éxterieurs») im Jahr 2004 mit dem Ziel, «die Mitgliedstaaten und Schengen-assoziierten Länder beim Schutz der Aussengrenzen des EU-Raums des freien Verkehrs zu unterstützen». So formuliert es die organisationseigene Website. Dazu gehören Grenzkontrollen, Grenzüberwachung, Rückführungen, das Sammeln und Weitergeben von Informationen (also beispielsweise das administrative Erfassen von Geflüchteten), die Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität sowie Such- und Rettungseinsätze.

Auch die Schweiz geniesst als Mitglied die Vorteile des Schengen-Abkommens. Europaweit können Schweizer:innen beispielsweise, seit das Abkommen 2008/2009 rechtsgültig wurde, die Grenzen zur EU ohne systematische Passkontrollen überqueren. Die Voraussetzung für diese grenzenlose Mobilität ist der Pass eines Schengen-Mitgliedlandes. Wer über keinen solchen verfügt, bekommt diese Grenzen deutlich zu spüren. Denn der «Schutz des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts», wie Frontex schreibt, gilt nicht vorbehaltslos jeder Person.

Wo Frontex vorkommt – und wo nicht

Hier einige Beispiele zur Illustration: Grenzen kommen nicht vor, wenn es um Studierende aus Nicht-Schengenstaaten geht, die in Europa studieren und arbeiten wollen. Grenzen kommen auch nicht im Kontext des Ukrainekriegs vor. Weissen, christlichen Menschen aus der Ukraine, von manchen als «echte» Flüchtende bezeichnet, wird die Ausreise aus der Ukraine und die Einreise in die EU erleichtert. Es wird sogar darüber diskutiert, die Ukraine in einem Schnellverfahren als EU-Mitglied aufzunehmen. Geflüchtete erhalten kostenlose Tickets für Zugreisen und den öffentlichen Nahverkehr. Das alles zeigt, wie (endlich!) schnell und unbürokratisch geholfen wird.

Doch leider gibt es Grenzen, an denen diese dringend notwendige  Menschlichkeit und Solidarität aufhören.

Am deutlichsten wird das beim Umgang mit nichtweissen, nichteuropäischen Flüchtenden sichtbar: Menschen, die vom afrikanischen Kontinent oder aus Syrien und Afghanistan fliehen mussten. Diese Menschen lernten die europäischen Grenzen in den letzten zehn Jahren in all ihrer Härte kennen. Denn die Flucht über das Mittelmeer war und ist bis heute lebensgefährlich. Nach Angaben von Statista, deren Quellen ohne Premium-Account jedoch hinter einer Paywall eingegrenzt sind, ertranken seit 2014 mehr als 23’500 Menschen im Mittelmeer.

Diese Menschen nahmen in der Hoffnung auf ein menschenwürdigeres Leben risikoreiche und kostspielige Routen auf sich – ohne dass ihnen nennenswerte Hilfe angeboten wurde. Im Gegenteil: Auf sie warteten keine warmherzigen, gut organisierten Häfen mit Schlafplatzangeboten in Privatunterkünften. Sie wurden von den Stacheldrähten Europas und den Frontex-Grenzwachen willkommen geheissen.

Ein umstrittenes Unternehmen

Bei Frontex handelt es sich nicht um eine staatliche Organisation, sondern um eine privat organisierte Agentur, die von einem Verwaltungsrat betreut wird. Dieser Verwaltungsrat wird weder demokratisch gewählt noch macht er der Agentur Vorgaben, wie sie zu arbeiten hat. Es handelt sich um ein ökonomisch organisiertes Unternehmen, das «Migrationssteuerung» betreibt, wie Frontex selbst schreibt. Entscheidend ist, dass Frontex keine eigenen Einsätze starten darf. Frontex kann nur von einem EU-Land aufgeboten werden, wenn dieses einen Antrag stellt und dieser bewilligt wird. Dann unterstützt Frontex staatseigene Grenzbeamt:innen bei ihren Aufgaben.

Nun steht Frontex aber seit einiger Zeit in der Kritik: Die Agentur traf sich beispielsweise mit Waffenlobbyisten, ohne dies zu deklarieren. Weiter beteiligte sie sich mutmasslich an sogenannten «Pushbacks», einem Manöver, bei dem Boote mit Flüchtenden gezielt abgedrängt und zur Umkehr gezwungen wurden. Der Verdacht liegt im Raum, dass Flüchtende aktiv daran gehindert wurden, nach Europa zu kommen und ein Asylverfahren in Anspruch zu nehmen, welches ihnen gemäss EU-Recht zusteht.

Frontex selbst bestreitet die Pushbacks, obwohl die türkische Botschaft – selbstredend nicht ohne Eigeninteresse – über 300 Videos von griechischen Küstenwachen veröffentlichte, welche die Aktionen belegen sollen. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri behauptete, die Boote mit Geflüchteten seien angesichts der griechischen Küstenwache, die von Frontex-Einsatzkräften nach der Entdeckung eines Geflüchteten-Boots benachrichtigt worden seien, selbst umgekehrt, da die sich darin befindenden Personen ihre Chancen auf Asyl als gering eingeschätzt hätten.

Klar ist: Was Frontex selbst als «Migrationssteuerung» bezeichnet, bedeutet praktisch, dass es eine Hierarchisierung zu geben scheint, wessen Leben die EU als schützenswert erachtet und wessen nicht.

Ökonomische –und womöglich xenophob geprägte – Überlegungen strukturieren dabei, wem bei der Flucht geholfen wird. Weisse Christ:innen scheinen Europa näher zu stehen als muslimische BIPOC. Ausser es handelt sich um eine indische Software-Ingenieurin, die für Google arbeiten soll.

Worum es bei der Abstimmung geht

Die aktuelle Abstimmung dreht sich um das Finanzielle, das die Organisation trägt: Frontex wird durch die Schengen-Mitglieder finanziert. Dabei ist das Budget der Organisation kontinuierlich gestiegen. Als die Agentur 2004 gegründet wurde, um ursprünglich einen gemeinsamen europäischen Grenzkorps zu schaffen, operierte sie mit einem Budget von sechs Millionen Euro. 2015, als die Agentur in ihre heutige Form gebracht wurde, arbeitete Frontex mit einem Budget von 137 Millionen. Und 2019 lag das Jahresbudget bei 330 Millionen Euro, wie im Frontex-Jahresbericht zu lesen ist.

Die Schweiz unterstützt Frontex seit 2011. 2021 waren es 24 Millionen Schweizer Franken, welche die Schweiz beisteuerte, wie SRF berichtet. Und obwohl die Migrationskrise 2015 ihren Höhepunkt erreichte, so der Europäische Rechnungshof, welcher unter anderem den Budgethaushalt der EU prüft, schlägt dieser ebenso vor, das Budget von Frontex für 2021-2027 auf 11 Milliarden Euro zu erhöhen. Damit sollen insgesamt 10’000 Grenzbeamt:innen in ständiger Reserve sein.

3000 anstatt 1500 Angestellte sollen künftig vom personaleigenen Bestand von Frontex stammen, wie der Verein «Sans Frontières» schreibt, der sich für Migrant:innen einsetzt. 7000 weitere sollen aus einem Pool von Grenzbeamt:innen der beteiligten Länder stammen.

Ebenso soll mit diesem Budget neue Ausrüstung für Grenzwachen angeschafft werden: Waffen, Boote etc. In dieser kontinuierlichen Aufrüstung soll die Schweiz künftig bis zu 40 Grenzbeamt:innen zur Verfügung stellen und beispielsweise im Jahr 2027 61 Millionen Franken beisteuern, so das SRF. Damit würde die Schweiz ca. 5% des Frontex-Budgets finanzieren.

Meinungsverschiedenheiten im linken Spektrum

In der Schweiz wird daher aktuell intensiv darüber diskutiert, ob Frontex unterstützt werden soll. Und für einmal sind sich Stimmen, die dem linken Spektrum zugeordnet werden, uneinig, wie abgestimmt werden soll. Die parteiunabhängige «Operation Libero», welche sich unter anderem in der Europapolitik engagiert, mahnt, dass es sich um eine Entscheidung handelt, die in der EU bereits seit drei Jahren rechtsgültig ist und die die Schweiz verspätet nachzahlen soll. Die Schweiz müsse diese Abstimmung annehmen, damit sie nicht ihren Mitgliedschaftsstatus als Schengenmitglied verspielt. Man könne nicht Nein zu Frontex und Ja zu Schengen gleichzeitig sagen.

Das digitale Portal «babanews», das Perspektiven von Schweizer:innen mit Migrationshintergrund oder Migrant:innen medial sichtbar macht, stellt sich aufgrund der ethisch anzweifelbaren Praktiken von Frontex gegen eine höhere finanzielle Beteiligung. Auch Kirchgemeinden und unabhängige Aktivist:innen sprechen sich aus ethischen Gründen gegen Frontex aus. Sie alle kritisieren, dass die Schweiz ihre Stimme in den letzten Jahren ohnehin nicht genutzt hätte, um sich wirkmächtig gegen die anzweifelbaren Praktiken zu stellen. Ein Nein bedeutet in ihren Augen, dass eine direkte Demokratie wie die Schweiz die Möglichkeit habe zu sagen: Frontex muss demokratischer organisiert und genauer überwacht werden.

«Operation Libero» entgegnet, dass, wenn man für künftig ethischere Praktiken von Frontex sein wolle, man klare Bereitschaft signalisieren müsse, Teil von Europa/Schengen zu bleiben. Frontex liesse sich nicht durch ein Nein der Schweiz reformieren, sondern durch Teilnahme an Europapolitik. Das evangelische Hilfswerk HEKS gibt keine Stimmempfehlung ab. Es kritisiert, dass in dieser Abstimmung nicht das Problem angegangen werde, sichere Fluchtwege zu schaffen.

In der Abstimmung bleib somit ungeklärt, ob und wie Grenzüberwachung ethisch verantwortungsvoll geschehen kann.

«No boundaries» erscheint als zu utopische Form. Doch ebenso wenig kann die Lösung heissen, eine intransparente, privat betriebene Grenzorganisation aufzuzüchten. Einmal mehr handelt es sich um ein Dilemma, bei dem man abwägen muss, welches die bessere der schlechten Alternativen bei der Abstimmung darstellt.

Wer für die Abstimmung noch Orientierungshilfen sucht: Im aktuellen Stammtisch sprechen Felix Reich, Stephan Jütte und Fabienne Iff ausführlich über die Abstimmung.

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