Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Fernschreiben aus dem Wald (1)

Vor lauter Expertenmeinungen und Statistiken hat mein Bedürfnis, einfach möglichst gedankenlos aus dem Fenster zu sehen, in den letzten Wochen exponentiell zugenommen. Heute hat’s mich gar jenseits des Fensters verschlagen.

Ich sitze auf einer Bank im Dählhölzliwald in Bern, im Schoss, geöffnet, ein frisches Notizbuch. Wie ein Naturlyriker im Homeoffice komm ich mir hier vor. Zwischen den Blättern hindurch betrachte ich den bedeckten, systemrelevanten Himmel und lausche den systemrelevanten Vögeln. Noch schöner wär’s, wenn es nun zu regnen anfinge. Auf dass mein bildschirmverstrahltes Gesicht gereinigt würde. Abgesehen davon winkt uns erneut ein zu heisser Sommer entgegen, und mein überhitztes Ich erhöht bereits jetzt die Waldbrandgefahr.

Überhaupt bin ich unsicher, denn ich bin nicht einfach freien Herzens ein wenig spazieren gegangen, nein, ich musste mich dazu bewegen, musste mich gegen die fiese Stimme in meinem Hinterkopf, die fortwährend „Bleib zuhause“ zischte, durchsetzen. Aber hier im Wald fühle ich mich doch zuhause! Dennoch ist es mir plötzlich, als hörte ich nun die Bäume flüstern:

„Wir hoffen, Sie haben einen triftigen Grund, warum Sie jetzt hier sitzen. Falls nicht, kehren Sie sofort um.“

Verrückt! Dabei sollte mich der Waldspaziergang doch beruhigen. Ach, aber würde ich jeden Tipp, wie man sich in diesen Zeiten verhalten soll, beherzigen, ich kriegte wohl einen Herzinfarkt. Und was heisst denn überhaupt in diesen Zeiten? Es gibt doch nichts als die Zeit. Jammere ich auf mittelmässigem oder hohem Niveau? Ich weiss nur, dass durch den gesteigerten Konsum von minutenaktuellem Journalismus meine Empfindlichkeit gegenüber Floskeln zugenommen hat.

Aber nein! Ich bin doch nicht hier im Wald, um meine, um vermeintlich meine Meinung zu äussern. Genau davor bin ich geflohen, meinungserschöpft.

Ich frage mich, ob es noch Menschen gibt, die keine Meinung haben und diese auch nicht äussern … Dass ich gar solche Fragen stelle, muss an meinem eskalierten Medienkonsumverhalten liegen.

Im Notizbuch liste ich jetzt die Diskurshämmer des Monats auf (Rangliste änderte sich zum Vormonat nur unwesentlich): „1. DIE Wahrheit, 2. DER Kapitalismus, 3. DER Sozialismus, 4. DIE Wirtschaft, 5. DER Feind, 6. DIE Medien, 7. DAS Volk, 8. DER Zeitplan, 9. DIE Lösung, 10. DER Fortschritt, 11. DIE Politik, 12. DIE Statistik und 13. DER gesunde Menschenversand. PS: Ich komme mir arg behämmert davor.“

In diesem Augenblick geht eine Frau in farblich assortierter Funktionskleidung so zielstrebig lustlos an mir vorüber, als würde sie von einer Überwachungsdrohne verfolgt. Und in meinem Notizbuch lässt sich eine Fliege nieder. Ich meine sie sagen zu hören:

„Ich bin ein Tier, das eine Erzählung von sich selbst hat. Also, hör mir jetzt mal zu.“

Als ich versuche die Fliege mit meinem Kugelschreiber einzukreisen, verlässt sie mich. Wär es mit den Millionen von selbsternannten Expertinnen und Experten nur ebenso einfach. Doch selbst ausgewiesenes Expertentum schützt vor Dummheit nicht. Für den Laien, sprich für den Menschen, macht das die Sache umso schwieriger. Man muss sich zuweilen geradezu an die eigene Mündigkeit erinnern. Es wird aber einem Nichtexperten auch klar sein, dass etwa im Hinblick auf die Epidemiebekämpfung zwischen „rechtzeitig handeln“ und „schnell handeln“ ein entscheidender Unterschied besteht. Und dass sich zwischen „Masken nützen nichts“ und „wenn wir genügend Masken haben, dann sollen sie plötzlich nützen“ eine durchaus durchschaubare Irreführung ereignet. Wer souverän kommuniziert, ist noch lange nicht souverän. Aber nochmals! Ich bin nicht in den Wald gekommen, um darüber nachzudenken! Ich will mich hier ablenken! Achtsamkeit üben! Kraft tanken! Bäume abfeiern!

Das Ganze besetzt meinen Kopf schon zur Übergenüge. Jedenfalls, wenn ich mir nicht gerade in der Küche beim Schälen von Karotten in den Finger schneide, um dann bei den Nachbarn zu klingen und zu fragen, ob sie mir ein Desinfektionsmittel ausleihen könnten, weil bei mir gerade keines zu finden sei. Als es dann zehn Minuten später bei mir klingelte und die Kinder der Nachbarn mir mit einer Zeichnung gute Besserung wünschten, ging mein Herz unerwartet in Leichtigkeit auf.

Nun sitze ich aber im Dählhölzliwald und frage mich, wie viele Viren die Fliege, die eben noch hier war, auf sich trug? Muss ich nun das Notizbuch desinfizieren? Ich lache über mich selbst, schliesse das Notizbuch und sehe wieder durch die Blätter lyrisch in den Himmel und versuche dabei an nichts zu denken, was mir selbstverständlich nicht gelingt. Immerhin schaffe ich es, mir für Augenblicke vorzustellen wie es wäre, nichts zu denken.

Dann schaue ich auf die Uhr und erinnere mich, dass ich bereits am 28. März zweifelte, ob ich sie um ein Jahr vor- oder zurückstellen soll. Die Unsicherheit ist seither nicht kleiner geworden.

 

Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Spoken Word Artist und Speaker. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Regelmässig Auftritte in ganz Europa, in den U.S.A., in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Zuletzt erschien sein Roman „Erwachen im 21. Jahrhundert“ (Zytglogge, 2018). www.juerghalter.com

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