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Erinnerung ist aktiv: Sie bedeutet Menschlichkeit und Rückgrat

Eine nach Anne Frank benannte Kita in Sachsen-Anhalt sollte dieser Tage zu «Weltentdecker» umbenannt werden: Man wolle gemäss einem neuen Konzept einen «unpolitischen» Namen. Das Vorhaben, das lange vor den Hamas-Angriffen auf Israel in die Wege geleitet wurde, ist zwar inzwischen vom Tisch, aber die medialen Wellen gingen darüber hoch.

Der Bürgermeister des Ortes, Andreas Brohm, eiert in einem TV-Interview herum, spricht von einem ergebnisoffenen «Diskussionsprozess». Er wollte nicht den Moralapostel spielen, lässt er sich von der «taz» zitieren – obwohl er im Präsidium des deutschen evangelischen Kirchentags sitzt.

Dies fällt in eine Zeit, in der sich antisemitische Vorfälle vervielfachen. In der Schweiz wurden in den letzten Wochen so viele davon gemeldet wie sonst in einem Jahr.

Grenzen verschieben sich

Für mich, wie für unzählige Teenager, war das Tagebuch der Anne Frank ein wichtiges Buch beim Erwachsenwerden. Was haben wir anhand der Lektüre gelernt? Dass damals Menschen allein aufgrund ihrer ethnischen bzw. religiösen Zugehörigkeit verfolgt wurden und ausgerottet werden sollten. Menschen, die zuvor selbstverständlicher Teil der Gesellschaft waren.

Uns Teenagern erschien das absurd und es war absolut klar, wie falsch dies war, und dass sich so etwas niemals wiederholen sollte. Ebenso klar war es, dass nur ein kleiner Teil der heutigen Gesellschaft, nämlich Rechtsextreme, dieses Unterfangen verleugneten oder feierten.

Es macht mich deshalb sprachlos, wie sich diese Grenzen in den letzten Jahren – und besonders in den letzten Wochen – verschoben haben.

Plötzlich ist es denkbar, dass «ergebnisoffen» über Erinnerungskultur diskutiert wird. Ich schüttle den Kopf und frage mich, in was für einer Welt wir eigentlich leben.

Wandel der Erinnerungskultur

Erinnerungskultur darf sich wandeln. Werte werden in einer Gesellschaft immer wieder neu verhandelt. Vor ein paar Jahren wurden etwa für Sklavenhändler errichtete Denkmale aus dem 19. Jahrhundert in den USA entfernt oder, wie in Bristol (GB), sogar von Protestierenden im Meer versenkt.

Die Richtung dieser Entwicklungen war klar: Es ging darum, als Gesellschaft inklusiver zu werden und sich gegen vergangenes Unrecht klar zu positionieren.

Die Entfernung des Namens einer in Auschwitz ermordeten Jüdin aus einer öffentlichen Institution ist ein Zeichen in die umgekehrte Richtung.

Ja, vermutlich wurde in der Kita selten bis nie die Lebensgeschichte von Anne Frank erzählt. Dennoch hält ein solcher Name die Erinnerung wach, oder regt zumindest dazu an, zu fragen, wer diese Person war. Und das ist wichtig.

Die Geschichte wiederholt sich

«Im Medium der Erinnerung setzt man sich in der Gegenwart für die Zukunft gemeinsam Ziele», schreibt die Kulturwissenschafterin Aleida Assmann. [1] Erinnerung ist nichts Passives, sondern etwas Aktives, Partizipatives.

Heute, 9. November, erinnert man sich weltweit. Man ruft die Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 wach, und trift damit auch eine Entscheidung über die Gesellschaft der Zukunft.

Gleichzeitig, wiederholt sich die Gewalt an Menschen, rein aufgrund ihrer jüdischen Identität: Heute, im November 2023, erhalten Kinder aus jüdischen Familien in der Schweiz Kurse, wie sie sich im Falle von Diskriminierung verhalten sollen.

Hat der Geschichtsunterricht in Europa versagt?

War alles Holocaust Learning, Erinnerungslernen, die Schulreisen in ehemalige Vernichtungslager und die Klassenlektüre von Anne Franks Tagebuch umsonst? Hat die AfD, die schon seit Jahren ein Ende des Holocaust-Gedenkens fordert, gesiegt?

Dass sich hierzulande Menschen vor Angriffen fürchten müssen, wenn sie in der Öffentlichkeit als Jüdinnen oder Juden erkennbar sind oder ihre Wohnungen entsprechend auszumachen sind, macht mich fassungslos.

Hatten wir als Gesellschaft uns nicht darauf geeinigt, dass dies nie wieder passieren dürfe?

«Nie wieder ist jetzt»

Kürzlich las ich einen Instagram-Post, in dem sinngemäss Folgendes stand: «Wenn du dir überlegst, wie du zur Zeit des Nazi-Regimes gehandelt hättest, dann schau dir an, wie du dich heute positionierst.» Und tatsächlich sagte Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, in einem Grusswort anlässlich der Herbstsynode der Evangelisch-Reformierten Kirche Schweiz:

«Ja, wir lernen gerade viel über unsere Mitmenschen.»

Es ist essenziell, dass wir jetzt dazu beitragen, dass sich die Grenzen nicht weiter verschieben, sondern wieder zurechtgerückt werden. Dass Antisemitismus nicht wieder salonfähig wird.

Carolin Emcke schreibt:

«Hass und Gewalt nicht allein zu verurteilen, sondern in ihrer Funktionsweise zu betrachten heißt, immer auch zu zeigen, wo etwas anderes möglich gewesen wäre, wo jemand sich hätte anders entscheiden können, wo jemand hätte einschreiten können, wo jemand hätte aussteigen können.» [2]

So ist es heute wie niemals zuvor in den letzten 80 Jahren wichtig, dass Erinnerungskultur und Gedächtnislernen weiter gepflegt werden und etwa in Lehrplänen institutionalisiert sind.

Kein Atom Hass

Mehr als historische Zahlen und Fakten schulen Lebensgeschichten wie diejenige von Anne Frank die Empathie. Ähnliches wie das berühmte Tagebuch leistet auch die Anfang Jahr erschiene Gesamtausgabe der Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum.

«Es müssen doch ein paar Menschen überleben, um später die Chronisten dieser Zeit zu sein», schrieb Hillesum. Wie Anne Frank lebte sie Anfangs der 1940er-Jahre in Amsterdam. Und wie Anne Frank wurde sie in Auschwitz ermordet.

Ihre Tagebücher sind Lektionen in Menschlichkeit. Hillesum erzählt, wie sich der Raum für Jüdinnen und Juden immer mehr zusammenzieht. Und 80 Jahre vor Carolin Emcke schrieb sie über den Hass:

«Rebellion, die erst geboren wird, wenn die Not die eigene Person berührt, ist keine echte Rebellion und wird nie fruchtbar sein können. Und die Abwesenheit von Hass bedeutet noch nicht die Abwesenheit von elementar-sittlicher Empörung.

Ich weiss, dass die, die hassen, ihre guten Gründe dafür haben. Aber warum wollten wir immer wieder den bequemsten und einfachsten Weg wählen müssen? Ich habe dort [im Arbeitslager Westerbork] so stark erfahren, wie jedes Atom Hass, das man dieser Welt hinzufügt, sie noch unbewohnbarer macht, als sie schon ist.»

Etty Hillesum in einem Brief vom Dezember 1942

Ob wir in den nächsten Jahren in einer bewohnbaren Welt leben, und ob dies alle Menschen tun können, entscheidet sich – entscheiden wir – jetzt.

 

[1] Aleida Assmann, Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, 2016.

[2] Carolin Emcke, Gegen den Hass, 2016.

Foto von Kadir Celep auf Unsplash

2 Kommentare zu „Erinnerung ist aktiv: Sie bedeutet Menschlichkeit und Rückgrat“

  1. Leider ist die Prognose gar nicht gut. Dass Kain Abel erschlägt, lässt sich (auch) nicht durch das Aufrufen von Beschwörungsformeln (in den nächsten Jahren) aus dieser einen Welt schaffen — und seien diese noch so gut gemeint und in bester Absicht aufgerufen.
    🙁
    Vielleicht sollte man(n) / frau / mensch arglose „fellow (country) men and women“ daran erinnern.

    Gewiss nicht ganz verkehrt wäre, eventuell, unter Umständen, möglicherweise, auch das Nachgehen der Frage, WARUM Kain Abel erschlägt. Ob dazu Theologinnen und Theologen noch (oder in absehbarer Zeit wieder) in der Lage sind, steht mir nicht (?) zu, hier und jetzt, zumal abschließend, oder mit einer denkbar größtmöglichen bzw. wünschenswerten Treffsicherheit zu beurteilen.

    Mein Name ist Blond. James Blond. Ich habe die Lizenz zum Röten und Erröten. In meinem Reisepass ist, freilich, ein (ganz) anderer Name eingetragen.

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