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 Lesedauer: 4 Minuten

Die Bibel als Abstract?

Einerseits liebe ich Zusammenfassungen, habe selbst ein Abo für Audiokurzversionen von Sachbüchern und weiss, dass in der Reduktion oft viel Wahrheit liegt. Andererseits befürchtete ich, dass in der Verknappung ausgerechnet dasjenige verloren geht, was der Bibel ihre Eindeutigkeit nimmt: Dass sie eigentlich kein Buch, sondern eine Bibliothek ist. Dass in ihr und an ihr viele unterschiedliche Autor*innen gewirkt haben. Ihre eigene Geschichte. Und ihre poetische Sperrigkeit gegen alle Versuche, sie „auf den Punkt zu bringen“.

Darf man oder macht man es nicht eh schon?

Aber dass die Bibel eine komplizierte, faszinierende Geschichte hat, in ihr viele Meinungen, Erfahrungen und Perspektiven zum Ausdruck kommen, ist ja auch nicht alles, was es über sie zu sagen gibt. Für mich ist das nicht einmal die Hauptsache. Ich liebe die Bibel für einzelne Erzählungen, Lieder und Verse. Während mir ca. 90% der Texte kaum präsent sind – 3.&4. Mosebuch, 1.&2. Chronik, fast alles, was die „kleinen“ Propheten geschrieben haben, Titus, Philemon, Judas oder die Offenbarung könnte ich nicht einmal grob zusammenfassen – begleiten mich andere Texte oder Versatzstücke seit ich denken kann.

Wenn ich ehrlich bin mit mir, habe ich längst einen eigenen Kanon, ein eigenes Bild der Bibel und eine private Hierarchie wichtiger, schöner aber auch langweiliger Texte verinnerlicht. Ich sage dann zwar Sätze wie diesen: „Ist doch Klasse, dass es vier Evangelien gibt, die unterschiedliche Perspektiven auf das Leben Jesu wiedergeben.“ So habe ich es gelernt. In Wirklichkeit lese ich kaum je darin. Mein Glaube lebt nicht von den Evangelien. Eher vom Römerbrief, den Geschichten des Alten Testaments und den Psalmen. Mein Abstract sieht ungefähr so aus:

Voilà, mein Abstract

Gott erschafft die Welt und den Menschen. Der Mensch kann urteilen wie Gott, ist dafür aber sterblich, wie alle Geschöpfe. In den Ur- und Erzelternerzählungen begegnet Gott einzelnen Menschen persönlich. Er wählt sie aus, um in ihrer Umwelt Botschafter*innen zu sein. Das geht nie leicht und ist immer gefährlich, weil Gottes Segen und Fluch sich nahe sind. Gott reagiert empfindlich auf Untreue – nur ihm gegenüber – und auf menschliche Hybris. Meistens ringt er sich aber zur Barmherzigkeit durch. Dass wir das auch tun sollen, habe ich aus der Josephsnovelle gelernt.

Schliesslich führt Gott sein Volk – ein regelrechter Underdog zwischen den anderen Mächten – aus Ägypten heraus. Auf diesem schier endlosen Weg gibt er seinen Menschen nicht nur zu Essen, sondern v.a. zahlreiche Gebote. Natürlich scheitern sie in der Folge ständig an diesen Ansprüchen. Jedenfalls erklären sich die Verfasser und Redakteure biblischer Texte so die Misere: Wir wurden eingenommen und deportiert, weil wir Gott nicht gehorcht haben. Andere widersprechen dieser Tun-Ergehen-Logik, z.B. in den Psalmen, Kohelet oder mit der Hiobsgeschichte.

Davon dass Gott, durch alle Windungen der Geschichte und der einzelnen Biografie doch alles zum Guten wenden kann, zeugen verschiedene Geschichten. Mein Sonntagsschulklassiker: Daniel in der Löwengrube. Daniel, das rechtschaffene Opfer eines Komplotts überlebt in der Löwengrube, weil Gottes Engel ihn retten und macht danach eine beachtliche Karriere. Dass nicht immer alles so kommt, wie wir es uns vorstellen, aber trotzdem irgendwie gut ist, lerne ich an der Jonageschichte: Gott beauftragt ihn, er haut ab, wir den Fischen zum Frass vorgeworfen, übernimmt den Job und droht schreckliche Gottesstrafen an, von denen Gott letztlich absieht.

Gegen Ende des Buchs komme auch ich ins Spiel. Die Bühne vergrössert sich. Indem Gott im Menschen Jesus selbst Mensch wird, wandelt er sich von der Volksgottheit zum Gott für alle Menschen, obwohl die Welt das nicht verstehen kann. Sie töten ihn aber er geht daran nicht zu Grunde, wird nicht verbittert, sondern versucht uns zu heilen. Manche haben in ihm den Messias erkannt, die meisten können das nicht glauben. Diejenigen, die das hoffen, leben und beten dafür, dass am Schluss die Liebe gewinnt.

get abstract

Die Bibel-Zusammenfassung auf getabstract ist deutlich ausgewogener und detailreicher. Und sie folgt dem christlichen Bibelkanon unkritisch. Das Alte Testament bereitet Jesus den Weg und das Neue Testament erscheint als logische Fortsetzung des ersten Teils. Das ist nicht falsch. Aber halt ein bisschen wie mit allen Zusammenfassungen: Was gesagt wird ist richtig. Aber was weggelassen wurde, kann entscheidend sein. Die Bibel wird insgesamt als Geschichtserzählung – nicht Geschichtenerzählung! – begriffen, die auf eine eindeutige Pointe zuläuft: Jesus, der langersehnte Messias kommt. Aber anders als erwartet. Er wird getötet und aufersteht am Dritten Tag und wird allen, die an ihn glauben zum Heil.

getabstract liefert eine gute Geschichte. Man könnte sie sicherlich besser erzählen. Aber in einer Zeit, in der die Theologie sich den Mikroanalysen verschrieben und die biblischen Texte nicht zur Allgemeinbildung gehören, ist es heilsam diese grossen Linien so explizit vorgeführt zu bekommen. Und unterhaltsamer als mein Abstract ist es allemal.

Ich würde jetzt also so antworten: Unbedingt. Wir brauchen Abstracts. Am besten gleich mehrere. Und vor allem verschiedene.

Photo by Patrick Tomasso on Unsplash

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