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Der versteckte Kaiser auf dem Katholikentag

Auf dem kürzlich zu Ende gegangenen deutschen Katholikentag ist ein Reiterdenkmal von Wilhelm I. auf dem zentralen Stuttgarter Karlsplatz mit einem roten Tuch verhüllt worden: weil der einstige Kaiser als Reichsgründer im Zusammenhang mit Imperialismus und Kolonialismus stehe, sei er ein «rotes Tuch». Mit der Aktion «DenkMal nach» der Künstlergruppe ReCollect wollten die Veranstalter nach eigenen Angaben das Denkmal nicht stürzen, aber ein Zeichen setzen. Das ist gelungen: Die von der Stadt Stuttgart finanziell unterstützte Aktion prägte die mediale Wahrnehmung des 102. Katholikentags.

Ich möchte im Folgenden ein paar Assoziationen und Gedanken ausführen und vorwegschicken: Das Wissen um das Ausmass der Verbrechen der Kolonialregime ist heute bei zu vielen Menschen immer noch zu gering und das Problembewusstsein zu wenig ausgeprägt. Auch ist es verlockend, Verantwortung von vornherein weit von sich zu schieben («Das ist ja nicht unserer Schuld», «Das ist längst verjährt», etc.) und die Augen vor Rassismus und fortdauernder Ausbeutung zu verschliessen. Es ist daher wichtig, sich kritisch mit Geschichte auseinanderzusetzen. Die Schwierigkeit aber ist die Wahl der passenden Mittel.

Verhüllung transformiert

Eine erste Frage betrifft die pure Geste der Stuttgarter Aktion: Was bewirkt die Verhüllung einer öffentlichen Statue? Verhüllung blendet aus, macht aber – paradoxerweise – auch sichtbar, und sie transformiert. Das einmal Verhüllte ist hinterher anders als davor. Dies konnte man bei der wohl spektakulärsten Verhüllungsaktion der Kunstgeschichte beobachten: Christos Verhüllung des Berliner Reichstagsgebäudes 1995.

Das durch die Hitler-Zeit kontaminierte Reichstagsgebäude war nach der Kunstaktion als Zeichen eines neuen, vereinten und demokratischen Deutschlands rehabilitiert. Um eine Reinwaschung aber konnte es in Stuttgart nicht gehen. Wohl deswegen wurde nicht weiss, sondern rot verhüllt.

Rot weckt Assoziationen an Blut. Blut wurde in nationalen, imperialen und kolonialen Kriegen reichlich vergossen. Die menschenverachtenden Aussagen des preussischen Generals Lothar von Trotha, etwa dessen «Vernichtungsbefehl» von 1904, gehen einem immer noch durch Mark und Bein:

«Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen. Ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.»

Ja/Nein-Schema

Die öffentliche Verhüllungsaktion des Kaisers auf dem Katholikentag intendierte offenbar, ein blutiges Geschichtskapitel in Erinnerung zu rufen. Das ist auch gelungen und verdient Beifall. Aber nicht ohne aber. Und dieses Aber betrifft viele heutige Kämpfe dieser Art.

Melanie Klein hat Kulturkämpfe – Culture Wars – vor dem Hintergrund einer «Spaltung» als psychischen Prozess betrachtet. Aus Angst, selbst nicht ganz unschuldig zu sein, projiziert man das Schlechte auf die anderen und schlägt sich demonstrativ auf die Seite der Ankläger und Guten.

So auch hier: Die Veranstalter stellten sich als woke Agent:innen auf die Seite der Anklagenden – und nahmen sich damit symbolisch aus der Schusslinie. Und das ist eine der Fragwürdigkeiten solcher Aktionen: Dass sie die Agierenden indirekt exkulpieren. Exkulpation durch Inkulpation, also die Beschuldigung anderer.

Zwischen Kolonialismus und Missionierung gibt es bekanntermassen zahlreiche Verbindungen und Verstrickungen. Darüber sagt die von den katholischen Veranstaltern und dem Stuttgarter Kulturamt verantwortete Verhüllungsaktion nichts aus, ja dieser Aspekt erscheint geradezu verschleiert: Verschleierung durch Verschleierung.

In unserem Social-Media-Zeitalter ist das plakative Vereinfachen und Herunterbrechen nahezu aller Themen auf ad hoc zu treffende Entscheidungen perfektioniert worden: zwischen Ja/Nein, Gut/Böse, schuldig/unschuldig. Wenn nahezu jedes Thema, auch die Geschichte, zu einer Frage der Abstimmung wird, wird das Spektrum zwischen den Polen ausgeblendet. Zum Spektrum gehört auch das gut Gemeinte, das gleichwohl Schlimmes gebiert.

Was zur Abstimmung gelangt und wie Fragen formuliert sind, darauf hat die Mehrheit freilich keinen Einfluss. Eine Schwund- und Verdummungsstufe ist erreicht, wenn ich etwas deswegen abwähle, weil die anderen dafür sind.

Dasselbe Schema üben wir bei unseren Konsumentscheidungen ein, wenn wir ad hoc entscheiden müssen, ob wir ein Produkt liken und nice finden oder eben nicht, auch wenn das angesichts einer Überfülle an Wahlmöglichkeiten gar nicht so leicht fällt.

Der britische Soziologe und Politiktheoretiker William Davies hat die Tendenz zur Vereinfachung komplexer Sachverhalte in einem Beitrag für die «London Review of Books» mit dem Titel «Who am I prepared to kill» (2020) herausgearbeitet. Davies weist auf den interessanten Aspekt hin, dass der politische Philosoph und konservative Staatsrechtler Carl Schmitt sich genau für das plebiszitäre Ja/Nein-Schema ausgesprochen hat: um langwieriges demokratisches Debattieren zu umgehen.

Geschichte ist kein Safe Space

Nicht nur aktuelle Verfehlungen werden zunehmend auf öffentliche Tribunale gestellt, sondern auch geschichtliche Ereignisse und Figuren. Stuttgart – oder auch die Forderung, die Industriellenstatue vor dem Züricher Bahnhof zu entfernen – sind Beispiele dafür, wie sich das Cäsarenurteil mit Daumen rauf/Daumen runter demokratisiert hat.

Wenn solche Formen vergröberter postkolonialer Kritik heute auf kommunaler Kulturamtsebene angekommen ist, lässt sich allerdings fragen, ob der Zenit nicht überschritten ist. Es erinnert mich an den letzten grossen Aktienhype. Als sogar Putzfrauen in den Aktienmarkt einstiegen, wurde das als Zeichen für den baldigen Einbruch gewertet.

Verwunderlich finde ich, dass sich Künstler beauftragen lassen, Werke anderer Künstler symbolisch auszulöschen.

So wie das Cäsarenurteil nicht neu ist, so auch übrigens nicht die so genannte Cancel Culture. Im Museo Nazionale Romano ist zu erkennen, wie umfassend Statuen einer bewussten Verstümmelung ausgesetzt wurden, um ihnen ihre Kraft zu rauben. Das reichte bis zur Tilgung des Andenkens einer Person, was später «damnatio memoriae» genannt wurde.

Aber wir brauchen nicht in die Ferne zu schweifen, es reicht auch ein Besuch des Berner Historischen Museums, um an das Bekannte erinnert zu werden: Dass auch und gerade die Reformation mit einem massiven Bildersturm einherging.

Zeitlich oder kulturell fernliegende Beispiele lassen uns solche Akte gern als Zeugnisse eines fanatischen Kulturbarbarismus betrachten und verurteilen. Wer würde im Westen die Zerstörung der Buddha-Statuen durch die Taliban verteidigen? Aber wer würde sich nach Hitler benannte Straßen oder Stalin-Statuen zurückwünschen als Zeugnisse einer bestimmten Epoche?

Auch hier sollte daher gelten: Es gibt kein einfaches Ja oder Nein, für oder gegen eine «woke Cancel Culture». Es muss immer wieder «mühsam ausgehandelt» werden (wie die etwas lahme, aber dennoch nicht falsche Formel lautet), welche geschichtlichen Zeugnisse wir bewahren oder auch nur: ertragen wollen; eben weil sie Teil unserer Geschichte sind. Und welche nicht erträglich sind, und wie wir mit letzteren umgehen wollen.

In der nächsten TheoLounge (erscheint am 11. Juni) ist die Philosophin Svenja Flaßpöhler zu Gast. Ich spreche mit der Chefredakteurin des «Philosophie Magazins» über Sensibilität in Zeiten symbolischer und realer Kriege. Den Ausgangspunkt bildet ihr viel diskutiertes Buch: «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren».

Ein Blogbeitrag zur Aufarbeitung von Verstrickungen zwischen Kolonialismus und Missionierung findet sich hier.

Foto: Stuttgart Karlsplatz, Kaiser-Wilhelm-Denkmal, Michael Kreuzer, Wikimedia Commons.

1 Kommentar zu „Der versteckte Kaiser auf dem Katholikentag“

  1. Henning Reinhardt

    Kaiser Wilhelm I. ist historisch gesehen eine denkbar schlechte Wahl, um den Kolonialismus zu problematisieren. Er hatte damit schlicht nichts am Hut. Aber solche einfachen Dinge gehen im Furor leicht unter …

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