Vorbemerkung: Der folgende Text von Heinzpeter Hempelmann ist die überarbeitete und gekürzte Fassung eines Aufsatzes, der in Heft 6/2024 der Zeitschrift «Theologische Beiträge» erschienen ist. Das «mindmaps»-Podcastgespräch geht den wichtigsten Punkten dieses Textes nach.
Einführung
Überschaut man das Panorama der Bücher und Aufsätze anlässlich des 300. Geburtstags von Immanuel Kant, gewinnt man den Eindruck, dass es kaum eine Errungenschaft der Moderne gibt, die sich nicht – mindestens teilweise – dem Werk des Meisterdenkers verdankt.
Ohne dessen unbestreitbare Bedeutung gänzlich in Frage stellen zu wollen, besteht doch die Gefahr, dass die Probleme aus dem Blick geraten, die kritische Stimmen, eigentlich von Anfang an, artikuliert und die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. Wenn wir uns Kant v.a. kritisch nähern, dann folgen wir immerhin dem zentralen Motiv seiner Philosophie, meinen allerdings, dass sich diese Kritik nicht nur extern, gegen andere, richten sollte, sondern auch auf die eigenen Voraussetzungen.
Die nachfolgenden Überlegungen sind – bewusst – einseitig. Sie können so vielleicht ein Stück weit ein Pendant sein zu der überwältigenden Anerkennung, die das Denken Kants erfahren hat.
Zum Vernunftbegriff Kants
«Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unterstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können» (KrV A XII; fette Hervorhebungen von hph).
Kant will in der «Kritik der reinen Vernunft» (KrV) philosophische Probleme lösen.
Aber an dieser Stelle im Vorwort zur ersten Auflage hebt er den Gelehrtentalar, und es wird deutlich, welchen universalen Anspruch er als Aufklärer erhebt: «Unterwerfung!»
Es gibt keine Autoritäten außer der Vernunft. Was etwas gelten will, muss sich vor der Vernunft als «Gerichtshof» (A XI) rechtfertigen. In diesem Gerichtshof ist «die Vernunft» nicht nur Anklägerin, sondern auch Richterin, und zugelassen sind allein die Beweismittel, die die Vernunft als vernünftig anerkennt. Dass mit der «Vernunft» Kant seine eigene Vernunft meint, daran läßt er keinen Zweifel, wenn er beansprucht, die «endlosen Streitigkeiten» der Metaphysik (A VIII) beendigt zu haben:
«Diesen Weg, den einzigen, der übrig gelassen war, bin ich nun eingeschlagen und schmeichle mir, auf demselben die Abstellung aller Irrungen angetroffen zu haben, die bisher die Vernunft in erfahrungsfreien Gebrauch mit sich selbst entzweiet hatten. Ich bin ihren Fragen nicht dadurch etwa ausgewichen, daß ich mich mit dem Unvermögen der menschlichen Vernunft entschuldigte; sondern ich habe sie nach Prinzipien vollständig spezifiziert und, nachdem ich den Punkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst entdeckt hatte, sie zu ihrer völligen Befriedigung aufgelöst. […] Ich erkühne mir zu sagen, daß nicht eine einzige metaphysische Aufgabe sein müsse, die hier nicht aufgelöst, oder zu deren Auflösung nicht wenigstens der Schlüssel dargereicht worden. […] Nun ist die Metaphysik nach den Begriffen, die wir hier davon geben werden, die einzige aller Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung […] versprechen darf, so daß nichts vor die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne damit den Inhalt im mindesten vermehren zu können. Denn es ist nichts als das Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet. Es kann uns hier nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern durch Vernunft selbst ans Licht gebracht wird» (A XII, XXI; fette Hervorhebungen von hph).
Kant spricht – nota bene! – von seinem Werk «Kritik der reinen Vernunft».
Er identifiziert die Vernunft mit dem Vernunftsystem, das er in dieser Grundlegung seiner theoretischen Philosophie entfaltet hat. Und umgekehrt: was er in einer ein Jahrzehnt dauernden, schweigenden Reflexion erarbeitet hat, präsentiert er als die Vernunft.
Kant beansprucht ein abgeschlossenes, nicht der Ergänzung oder gar der Besserung und Kritik bedürftiges System vorgelegt zu haben. Dieses ist offenbar sakrosankt. So sehr Anderes der Kritik unterworfen wird, ja sich der Kritik, seiner Kritik unterwerfen muss, so wenig rechnet Kant für sich selbst, seinen Entwurf, damit. Es ist damit nicht unterstellt, dass er sie für sein Denken abwehren würde. Kritik ist ja sein Geschäft. Aber er ist zutiefst davon überzeugt, etwas entdeckt und offenbart zu haben, was so vollständig, vollkommen und stimmig ist, dass man es eigentlich nicht kritisieren kann. Hier ergeben sich nun eine ganze Reihe von kritischen Rückfragen:
1. Beanspruchung eines Gottestandpunktes?
Kant masst sich an, die gesamten metaphysischen Fragen beantworten, also einen Standpunkt einnehmen zu können, von dem aus er die gesamte Metaphysik überschauen kann. Das ist nur möglich als Beanspruchung einer Art Gottesstandpunkt. Kant identifiziert das, was er als System der Vernunft entdeckt und in der «Kritik der reinen Vernunft» entfaltet, mit «der Vernunft» schlechthin. Man darf Kant nicht unterstellen, dass er sich mit dieser Identifikation wichtig machen will, auch wenn die Entdeckerfreude unübersehbar ist. Die Rückfrage ist nicht psychologischer oder ideologiekritischer Natur: Bläst sich hier jemand auf? Ist das nur Rhetorik? Will hier jemand seine Diskursrolle stärken? Die Rückfrage muss viel tiefer ansetzen:
Erhebt Kant hier nicht so etwas wie einen Offenbarungsanspruch? Er nimmt offenbar an, dass durch ihn etwas absolut Gültiges, für alle Zeit Gültiges zur Welt gekommen ist.
Der implizite und explizite Anspruch, der hier in der programmatischen Vorrede der Grundlegung der Kantischen Philosophie greifbar wird, ist: roma locuta, causa finita. Rom hat gesprochen, die Sache ist entschieden. Der Rechtsgrundsatz aus dem Kirchenrecht bedeutet in der Sache: Wenn die höchste Instanz, der Papst als Stellvertreter Gottes, gesprochen hat, verbleiben keine Rechtsmittel mehr; es gibt keinen Raum und keinen Grund mehr für weitere Diskussionen.
Sinn macht eine entsprechende Äußerung und ein entsprechender Anspruch nur, wenn (1) die höchste Instanz tatsächlich erreicht ist und wenn (2) der, der hier spricht, im Namen oder als Medium einer höchsten Instanz formuliert. Die nicht vorstellbare Alternative wäre ja, das Kant annimmt, dass er nur einen weiteren rationalistischen Entwurf vorlegt, in der langen Reihe von Spinoza, Wolff, Leibniz. Das würde freilich nicht zu einem solchen Auftreten berechtigen.
2. Apokalyptisches Denken?
Kant offenbart sich als «apokalyptischer» Denker, im Doppelsinn des Wortes von offenbarend und an ein Ende gebracht. Er offenbart die Irrtümer und Fehler der philosophischen Tradition und beseitigt ihre Quellen ein für alle mal.
Weil diese Offenbarung Letztautorität hat, «vernünftig» ist, im Sinne Kants: im Sinne der Vernunft des individuellen Denkers und im Sinne der von ihm entdeckten Vernunft,- bringt diese Offenbarung die Philosophie auch an ihr Ende.
Der offenbaren Offenlegung der Wahrheit kann man nicht widersprechen, und man braucht es auch nicht. Kritik an ihr ist – wie vor dem Richterstuhl Gottes im letzten Gericht – nicht möglich und nicht mehr nötig.
Philosophie ist – im doppelten Sinne – «am Ende».
3. Zirkulärer Vernunftbegriff?
Gefragt nach dem Recht der hier vorgelegten kritischen Grundlegung aller Philosophie, begegnet man der Sache nach einem Zirkelschluß.
Diese Philosophie ist die richtige, weil sie vernünftig ist. Sie ist vernünftig, weil sie dem entspricht, was Kant als theoretische Grundlegung entwickelt hat. Diese Grundlegung durch die Kritik der reinen Vernunft wiederum soll gelten, weil sie vernünftig ist. Usw. usf.. Natürlich stehen wir hier vor dem Vorwort, das uns locken soll in die Entfaltung des Systems, das – nach Kants Erwartung – für sich selbst und seine Wahrheit sprechen soll. Da diese Entfaltung aber nicht voraussetzungslos ist, sondern sich der von Kant benutzten Begriffe mit der für sie spezifischen Semantik bedient, bleibt es bei dem genannten Zirkel:
Der KrV ist zu folgen, weil sie vernünftig ist. Sie ist vernünftig, weil sie sich der von Kant in diskursiver Auslegung der Begriffe gewonnenen Einsichten bedient. Auf diese sollen wir uns einlassen, weil sie vernünftig sind (vgl. Anfrage 2 und 5).
Genau um solche, überall in der Wissenschaftspraxis und auch in theoretischen Begründungen einer wissenschaftlichen Disziplin anzutreffenden zirkulären Begründungen möglichst zu entgehen, wird in der normativen Wissenschaftstheorie ein Theorienpluralismus vertreten.
Nicht die Überzeugung, eine «vernünftige Theorie» gefunden und begründet zu haben, stellt das eigentliche Problem dar, sondern der hier aufscheinende Selbstwiderspruch im Fundamentalen einer sich als kritisch verstehenden Philosophie.
Gehört es nicht zum Wesen einer sich ausdrücklich als kritisch apostrophierenden Philosophie, dass sie sich nicht absolut setzt und davon ausgeht, dass es ohnehin nicht mehr zu einer Korrektur kommen wird?
4. Individueller Vernunftbegriff?
Kants ganze Philosophie baut auf Begriffen auf. Erkenntnis ist für ihn die diskursive Erörterung von Begriffen. In der Tradition der rationalistischen Philosophie kommt alles darauf an, die Begriffe, die gebraucht werden, zu klären, sie also klar und deutlichherauszuarbeiten. Sie bilden ja die einzig verläßliche, von Erfahrung, Geschichte, Kontingenz freie Grundlage des Erkennens.
Schon Gottfried Wilhelm Leibniz hatte aber gezeigt, dass uns Begriffe oft klar zu sein scheinen, eine weitere Auslegung und Klärung aber womöglich zeigt, dass v.a. die zusammengesetzten Begriffe in sich widersprüchlich sein können. Deshalb müssen die Begriffe, mit denen gearbeitet wird, verdeutlichtet und dürfen nicht einfach vorausgesetzt werden.
Das Problem besteht nun darin, dass – wie Leibniz als genialer Sprachdenker zeigt – diese Verdeutlichung letztlich nicht möglich ist.
Denn jede Verdeutlichung der Bedeutung eines Begriffs vollzieht sich ja wiederum notwendig in Begriffen, die – wenn sie verlässlich sein sollen – ja ebenfalls verdeutlicht werden müssen, – durch andere Begriffe etc.. D.h., wir kommen hier an kein Ende.
Die begriffliche Basis bleibt immer hypothetisch. Die Begriffe, die wir benutzen, sind notwendig und unüberholbar individuell,- auch wenn wir meinen, aber eben nicht wissen können, dass wir sie mit anderen teilen. Wir können unsere Begriffe, in denen wir uns orientieren, immer nur individuell, für unsere Zwecke befriedigend, aber nicht abschließend verdeutlichen und auslegen. Wegen der «unaufhebbaren Diskursivität unseres Denkens bleibt alles Denken in Begriffen letzten Endes gleichermaßen individuell» (Joseph Simon). Beanspruchen wir für sie individuelle Geltung, vergessen wir unsere «Zeitlichkeit»; übergehen wir, dass wir auch als philosophische Subjekte Menschen sind. Genau das scheint die rationalistische Versuchung zu sein, der Kant erlegen ist.
Im Ergebnis bedeutet diese sprachphilosophische Einsicht, «daß niemand definitiv sagen kann, was Vernunft sei», auch Kant nicht.
Simon resümiert: «Das betrifft dann aber auch die Kantische Absicht, die Metaphysik ‘nach Begriffen’ einer ‘Vollendung’ zuzuführen, und ‘zwar in kurzer Zeit’ […]. Das bleiben apokalyptische […] Töne bei Kant selbst.»
5. Unreiner Vernunftbegriff
In eine ähnliche Richtung weist die Kritik an Kants Transzendentalphilosophie, die schon sein genialer Zeitgenosse Johann Georg Hamann vorgebracht hat. Auch Hamanns Kritik geht aus von der Individualität des großen Denkers und Freundes, spitzt diesen kritischen Ansatz aber sprachphilosophisch zu.
Es ist wenig bekannt, dass eine der größten Leistungen Kants darin besteht, eine deutsche Philosophensprache geschaffen zu haben, nachdem bis ins 18 Jh. das Lateinische als Medium gelehrter Kommunikation selbstverständlich war.
In dem von Gottlob Benjamin Jäsche herausgegebenen Begleitbuch zur Vorlesung, der sog. Jäsche-Logik (1800; AA Bd. IX), werden in völliger Durchsichtigkeit diese deutschen Begriffe als die Bausteine der KrV dargeboten, in ihrem gegenseitigen Verhältnis bestimmt und damit in ihrer Bedeutung erläutert. Es findet sich das begriffliche, durch und durch sprachliche Fundament dieser Erkenntnistheorie, die sich als diskursive (zergliedernde) Verdeutlichung von Begriffen vollzieht und eben darum von einer großen Fülle von Distinktionen lebt:
Logik als Analytik und Dialektik, subjektiv und objektiv, apriori und aposteriori, Klarheit und Deutlichkeit, Vernunft und Verstand, historisch und rein/vernünftig, Meinen, Glauben und Wissen als die – einzigen – Modi des Fürwahrhaltens, Raum und Zeit als Formen der Anschauung, 12 Kategorien als vollständige Tafel der für alle verbindlichen Hinsichten auf Wirklichkeit etc. pp..
Wer sich auf diese Begriffsdistinktionen einläßt, wird Kant in seinen Ableitungen und Konstruktionen weitgehend folgen (müssen).
Hamann diskutiert nun gar nicht die Distinktionen im Einzelnen; er läßt sich nicht auf Erörterungen spezieller Probleme ein. Seine Kritik ist viel fundamentaler.
Der Knackpunkt: die Distinktionen Kants sind sprachliche Distinktionen.
Hamann bestreitet nicht die Schlüssigkeit des Kantischen Systems, sondern die Festigkeit, philosophisch: Objektivität, d.i. Allgemeingültigkeit des Fundamentes, des – wie er ironisch unter Aufnahme des Anspruchs Kants im Vorwort der KrV formuliert – «allgemein und zum Katholicismo und Despotismo nothwendigen und unfehlbaren Stein der Weisen, dem die Religion ihre Heiligkeit und die Gesetzgebung ihre Majestät flugs unterwerfen wird».
Hamann setzt an beim bezeichnenden Titel der theoretischen Grundlegung der Kantischen Philosophie.
Da sein Vater Badermeister war, wußte Hamann, worauf es bei der Reinigung ankommt. Er wußte: Mit schmutzigem Wasser kann man nicht sauber waschen und reine Ergebnisse erzeugen.
Kant übersieht über allen Reinigungsversuchen die «Hauptfrage: wie das Vermögen zu denken möglich sey» (N III, 286). Vor allen rationalen Distinktionen, die Hamann in ihrer Logik gar nicht bestreitet, steht «die genealogische Priorität der Sprache» (ebd.). «Das gesamte Vermögen zu denken beruht auf Sprache» (ebd.). Sie ist das Waschwasser, mit dem Kant die Vernunft als Erkenntnisorgan von allen empirischen, nicht-reinen, nicht-objektiven, kontingenten Elementen zu reinigen sucht.
Er übersieht dabei, wie über die benutzte Sprache «Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf- und Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit hinabsteigen» (N III, 287). So ist die nicht beachtete Sprache «der Mittelpunkt des Misverstandes der Vernunft mit ihr selber» (N III,286).
Sinnlichkeit und Verstand, Vernunft und Geschichte, rational Reines und – bloß – Historisches lassen sich nicht trennen; nur um den Preis trennen, dass man den eigenen Grundlagen gegenüber unkritisch wird.
Hier kommt es dann auch zu einer Kritik inhaltlicher Überzeugungen des Ansatzes der KrV:
Die Distinktionen von Kant sind abstrakt, künstlich; sie gehen an der Wirklichkeit vorbei.
Es ist ein vergebliches Unterfangen, «die Vernunft von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen» (N III, 284). Absolut modern und von Jürgen Habermas in seiner nachmetaphysischen Philosophie mit ihrem Bestreben, aus der sprachlichen, gemeinschaftlichen Kommunikation ein normatives Fundament zu gewinnen, eingeholt, mutet die Einsicht Hamanns an: Die Sprache ist «das einzige, erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft, ohne ein ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum.» (Ebd.)
Die sprachphilosophische Diskussion des 20. Jh.s untermauert diese kritische Perspektive, wenn sie im Hinblick auf die mannigfachen Versuche, eine – für Mathematik und Philosophie gesuchte – reine Idealsprache zu bilden, darauf hinweist, dass ja jeder – ideale – Begriff in seiner Bedeutung bestimmt werden muss und dass auf einer letzten Ebene diese Erläuterung nur im Rahmen der «unreinen», empirisch und historisch gesättigten Umgangssprache passieren muss.
Es ist bemerkenswert, dass in einer der besten Kant-Biographien der Gegenwart die Kritik Hamanns als stichhaltig gewürdigt wird (Manfred Kühn: Kant: Eine Biographie, München 2003, 294) und dass einer der besten Kant-Kenner der Gegenwart Hamanns Kant-Kritik, die von Herder aufgenommen wird, systematische Relevanz bescheinigt (Otfried Höffe: Immanuel Kant, München [1983] 6. Aufl. 2007, 283f).
Die Vernunft der KrV ist darum nicht rekonstruiert, sondern konstruiert; sie ist nicht rein, sondern – so die spätere Kritik Nietzsches – individuell.
Hamann spricht dekonstruierend von Kant als der «Vernunft aus Königsberg». Ohne genaueste Lokalität und Temporalität gibt es für Hamann keine wahre Erkenntnis («keine ewigen Wahrheiten als unaufhörlich zeitliche»). Das ist Hamann über der Wahrnehmung der Wahrheit Gottes in der Inkarnation des Sohnes Gottes klar geworden. Hier liegen denn auch die letzten theologischen und philosophischen Gegensätze zwischen den beiden Freunden.
Die Reinigung der Vernunft kann nicht gelingen, weil die Begriffe nicht rein sind. Die rekonstruierte Vernunft ist nicht allgemeingültig, auch wenn ihre Logik schlüssig ist für die, die sich auf ihre begrifflichen Voraussetzungen, sprich Distinktionen und Definitionen eingelassen haben. Mit Blick auf den größten Schriftsteller der Antike heißt es anerkennend und entlarvend zugleich: «Der Homer der reinen Vernunft» unterliegt einer Täuschung, «weil er sich den bisher gesuchten allgemeinen Character einer philosophischen Sprache als bereits erfunden im Geiste geträumt».
Kant ist also im Entscheidenden unkritisch.
6. Kant als erkenntnistheoretischer Solipsist?
Einen entscheidenden Anstoß für seinen transzendentalphilosophischen Ansatz findet Kant in der Geschichte der neuzeitlichen Physik:
Ihren «Naturforschern ging ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt» (KrV B XIII). Kant will, angestoßen durch diese Einsicht, eine regelrechte «Revolution» (B XXII) vollbringen:
«Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht […] damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten […]. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nicht nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man von ihr a priori etwas wissen könne [d.h. zu angemessenen, für die Erkenntnis notwendigen Begriffen kommen kann; aus der Erfahrung lassen sie sich ja nicht ableiten; hph]; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen.» (KrV B XVI-XVII).
Die von Kant vorgeschlagene «Kopernikanische Revolution» des Denkens soll also ein Problem lösen.
Sie ist kontraintuitiv, wie die von Kopernikus, indem sie scheinbar die Dinge auf den Kopf stellt. Anders als die Lösung von Kopernikus ist sie auch kontra-realistisch. Kopernikus versucht, den wirklichen Verhältnissen zu entsprechen: die Erde dreht sich um die Sonne, und nicht umgekehrt. Kant verabschiedet die realistische Korrespondenztheorie der Wahrheit (Wahrheit als adaequatio intellectus ad res).
Der Preis für die Lösung der metaphysischen Probleme oder besser: der Probleme, vor die die Metaphysik stellt, ist hoch. Wir verzichten auf den Anspruch, die Wirklichkeit als solche wahrnehmen zu wollen. Wir erkennen sie nur so, wie sie uns in den vom Verstand vorgegebenen Formen der Anschauung: Raum und Zeit, und strukturiert durch die 12 kategorialen Ordnungsperspektiven erscheint.
Demzufolge können wir nicht wissen, ob die auch von Kant unterstellte Raum-Zeitlichkeit Merkmal der Realität ist oder ob wir sie uns buchstäblich nur ein-bilden.
Was wir wissen, ist, dass wir sie so wahrnehmen und zwar – etwas naiv unterstellt – alle. Weil der Verstand eine Brille vorgibt, die wir nicht absetzen können, können wir die Welt gar nicht anders wahrnehmen als wir sie wahrnehmen.
Wir können ebenso wenig wissen, ob es Kausalität gibt. Was wir – so Kant – wissen, ist, dass wir alle die Welt notwendig unter einer Ursache-Wirkung-Perspektive anschauen.
Die Wirklichkeit als solche, von Kant als «Ding an sich» bezeichnet, ist uns nicht zugänglich.
Schon hier wären ethnologische Einsichten zur Raum- und Zeitwahrnehmung in anderen Kulturen als Korrektur zu berücksichtigen. Es ist naiv und ein Zeichen von Eurozentrismus, wenn wir unterstellen würden, dass der dreidimensionale Raum und eine linear verlaufende Zeit an sich gegeben seien und für alle anderen Menschen und Kulturen selbstverständlich gegeben sind. Andere Raum-Zeit-Konzepte erschließen die Wirklichkeit vielmehr in völlig anderer Weise. (Vgl. etwa die Hinweise des israelischen Linguisten Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht, (2010) München 4. Aufl. 2012.)
Hier fangen nun die systemimmanenten Probleme an, die für die Kant-Forschung und -Exegese eine dankbare, nicht versiegende Quelle immer weiterer Erörterung darstellen.
Denn natürlich muss Kant eine Wirklichkeit an sich voraussetzen, auf die sich unsere Wahrnehmungen bezieht; die Alternative wäre ja, dass sich die gesamte Wirklichkeit im Sinne eines radikalen Idealismus nur in unseren Köpfen abspielt.
Es braucht also das «Ding an sich» als externen Bezugspunkt. Andererseits ist es ein notwendiges Implikat des transzendentalen Ansatzes, dass wir genau einen solchen Erkenntnis-Bypass um die Vorgaben unseres Verstandesapparates nicht haben. Einerseits können wir über das «Ding an sich» nichts wissen, streng genommen, noch nicht einmal, dass es existiert. Auch das ist nur ein Postulat der Transzendentalphilosophie, die ja einen externen Bezugspunkt voraussetzen muss, auf den sie sich beziehen muss, um nicht solipsistisch zu werden. Aber ein solches Postulat bedeutet ja nicht notwendig, dass es das, was postuliert wird, auch gibt.
Also, streng genommen können wir noch nicht einmal wissen, ob es das «Ding an sich» gibt, andererseits brauchen wir es, wenn wir nicht einen verrückten, völlig «unrealistischen» Standpunkt einnehmen wollen.
Der Preis für die Lösung der metaphysischen Probleme ist allerdings hoch, womöglich zu hoch: Wir erkennen die Wirklichkeit nicht, grundsätzlich nicht.
Wir begegnen im Wesentlichen und unentrinnbar uns selbst und unseren eigenen Setzungen. Die metaphysischen Probleme werden gelöst, indem sie für den Bereich der Erkenntnis beseitigt, hinwegdefiniert werden. Kant bestimmt ja die «Methode der Denkungsart» ausdrücklich und zugegebenermaßen so, «daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen.» (B XVIII)
Durch die Konstruktion des Verstandes wird also schon darüber entschieden, was wahrgenommen werden kann und – noch mehr bzw. was für den konstuktivistischen Ansatz dasselbe ist -: was wirklich ist. Die definierten Formen der Anschauung und Kategorien des Verstandes erzeugen bestimmte Erkenntnisse; sie lassen sie zu oder verweigern ihre Wahrnehmung, lassen sie – als Gegenstände sog. Erfahrung – eben nicht zu.
Da es außerhalb dieses Erkenntnisweges keinen weiteren zur Erfahrung und Erkenntnis der Welt gibt/ geben darf, fällen sie damit in der Sache auch ein ontologisches Urteil.
Was nicht in das Schema passt, existiert – für uns – «vernünftigerweise» auch nicht. Es mag ja dann sein, daß es noch anderes als das durch unsere Wahrnehmung Angeschaute gibt, aber es kommt für uns als relevante Wirklichkeit nicht in Betracht. Es kommt ja nicht vor.
7. Kant als Zensor? Autokratischer Vernunftbegriff
Kants Transzendentalphilosophie bedeutet gerade auch in der schon dokumentierten Apodiktizität eine ungeheure Zumutung. Sie kommt einer fundamentalen Zensur, einem Messer im Kopf gleich. Welche Relevanz sein Vorgehen hat, sei an zwei Beispielen nur angedeutet.
Schon für den vorkritischen Kant ist der absolute Raum der Physik Isaak Newtons normativ. Der Kant der KrV unterstellt zwar nicht die Raum-Zeitlichkeit und Mechanik der Naturauffassung Newtons; deren zentrale Merkmale werden aber umso bestimmender, als sie zu den normativen, unsere Weltwahrnehmung und so auch unsere Orientierung in der Welt bestimmenden Formen der Anschauung und Strukturen gültiger, unhintergehbarer Konstruktion von Wirklichkeit werden.
Die von Kant hierbei unterstellte Identität von physikalischem, geometrischen (Euklidische Geometrie) und gelebtem bzw. erlebten Raum zeigt die Zeitbedingtheit seines Konzeptes, von dessen apriorischen Vorgaben sich die moderne Physik lange und ausdrücklich verabschiedet hat.
Popper arbeitet heraus, «was die Newtonische Theorie nicht nur für Kant bedeutete, sondern für alle Denker des achtzehnten Jahrhunderts»: «Kein Kenner der Problemsituation konnte daran zweifeln, daß Newtons Theorie wahr war», gemeint sind die in den Principia formulierten astronomischen und anderen Gesetze (Über die Eigenart philosophischer Probleme, in: ders.: Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum wissenschaftlicher Erkenntnis, hg. von Herbert Keuth, 2. Aufl. Tübingen 2009, [121-148] 142.143).
Die besondere Bedeutung der Entdeckungen Newtons besteht nach Popper für Kant gerade darin, dass Newton etwas geschafft hat, was nach Hume gerade nicht möglich ist: der Gewinn von echter episteme, also einer sicheren Erkenntnis, auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Die «Kritik der reinen Vernunft» ist darum nach Popper als Versuch Kants zu verstehen, wie diese episteme denn zu denken möglich ist, angesichts des Einspruchs Humes, der Kant selber aus dem «dogmatischen Schlummer» geweckt hatte, wie er im Vorwort zur ersten Auflage der KrV bekennt.
Die Pointe dabei ist: Kant übernimmt zwar in seiner Transzendentalen Ästhetik nicht die realistische Sicht Newtons, aber er verleiht ihr geradezu metaphysische Weihen.
So, wie Newton die Welt sieht, als absolutes Raum-Zeit-Kontinuum, so muss sie uns erscheinen. Eine aus unserer heutigen Sicht sehr zeitbedingte und vorläufige Sicht der Natur wird hier philosophisch heilig gesprochen (vgl. dazu als Beleg auch den Versuch einer apriorischen Deduktion der Newtonschen Theorie in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft von 1786. Die Gesetze Newtons sind geradezu Paradebeispiele für die von Kant geforderte synthetische Erkenntnis a priori, also Erkenntnisgewinn, unabhängig von Erfahrung).
Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Theologie.
Die von Kant in der Transzendentalen Elementarlehre formulierten, angeblich a priorisch geltenden Vorgaben geben eben vor, was erkannt werden kann und was nicht. Die Vorgaben in der Transzendentalen Ästhetik bestimmen eben erst, daß Gott kein Gegenstand der Erfahrungserkenntnis sein kann. Nota bene:
Das ist nicht an sich so, auch wenn ganze Heere (neu-)protestantischer Theologen Kant in dieser Vorentscheidung gefolgt sind,- eine überwältigende Fülle religiöser Überlieferungen spricht dagegen.
Gott, Gotteserfahrung, Gotteserkenntnis, auch die Möglichkeit seines Weltwirkens werden durch die Vorgaben von Transzendentaler Ästhetik und Transzendentaler Analytik regelrecht ausgeschlossen.
Kant selbst betont ja, daß wir nämlich von den Dingen nur das erkennen, was wir selbst in sie legen (s.o.). Es hat leider nur wenige protestantische Theologen, unter ihnen v.a. an Johann Georg Hamann und Adolf Schlatter, gegeben, die sich diesen Konstruktionen und Restriktionen aus philosophischen und theologischen Gründen versagt haben.
Zu ihnen gehört auch Karl-Heinz Michel. Er hat als Dissertation eine Schrift vorgelegt: «Immanuel Kant und die Frage der Erkennbarkeit Gottes. Eine kritische Untersuchung der ‘Transzendentalen Ästhetik’ in der ‘Kritik der reinen Vernunft’ und ihrer theologischen Konsequenzen». Das Manuskript wurde von der Theol. Fakultät in Mainz abgewiesen. Von der Qualität der Arbeit kann sich jedermann überzeugen. Sie ist publiziert worden.
Der Verdacht liegt nahe, dass die Kritik am Säulenheiligen des Neuprotestantismus grundsätzlich inakzeptabel ist. Wer die Voraussetzungen der Philosophie Kants nicht akzeptiert, kann kein wissenschaftlicher Theologe sein.
Die Verlockung durch das Linsengericht («Prädikat: wissenschaftliche Theologie») war zu hoch; der Preis: der Verzicht auf den Anspruch, die Wirklichkeit Gottes vernünftig artikulieren zu können, ist aber für eine biblisch-theologisch orientierte evangelische Theologie unbezahlbar.
8. Kant als Autist? Seine Unfähigkeit, sich zum Verstehen anderer herunterzuneigen
Wir dokumentieren zwei exemplarische Vorgänge, die Licht auf sein Modell von wissenschaftlicher Erkenntnis und seine Vorstellung von Kommunikation werfen.
(1) Das Projekt einer Physik für Kinder
Da ist zunächst das von Kant und Hamann geplante gemeinsame Vorhaben einer «Physick für Kinder» (vgl. zum Folgenden: J.G. Hamann, in: ders.: Briefwechsel. Bd. 1, 1751-1759, hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Wiesbaden 1955, im Folgenden abgek. als ZH I).
Kant hatte sich bereits durch naturwissenschaftliche Veröffentlichungen auf den verschiedensten Gebieten einen Namen gemacht. Sein Ziel war es vermutlich, die eigene physikalische Fachkompetenz in das Projekt einzubringen, auch wenn er, der jahrelang als «Hofmeister», also Privatlehrer seinen Lebensunterhalt verdienen musste, scherzen konnte, «daß in der Welt vielleicht nie ein schlechterer Hofmeister gewesen wäre».
Und genau hier sitzt dann auch das Problem. Der Partner, Hamann, macht die Herausforderung deutlich: Es sei nötig, in diesem Vorhaben «ein Philosoph für [!] Kinder» (ZH I,446,3; Hhbg. i.O.) zu sein. Um Kant die Aufgabe zu erleichtern, bietet sich Hamann an, «die Stelle des Kindes zu vertreten» (ZH I, 448,33), zu dem Kant sich herunterneigen muss, wenn er sich verständlich machen will.
Hamann erläutert die Herausforderungen, die sich für Kommunikation ergeben, exemplarisch an diesem anspruchsvollen Projekt:
«Sie wollen mein Herr M.[agister; hph] Wunder tun. Ein gutes, nützliches und schönes Werk, das nicht ist, soll durch ihre Feder entstehen. […] Sie sind in Wahrheit ein Meister in Israel, wenn Sie es für eine Kleinigkeit halten, sich in ein Kind zu verwandeln, trotz Ihrer Gelehrsamkeit» (ZH I, 444, 34 – 446,11).
Hamann spielt auf das Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus an (Joh 3,2-5). Auch Nikodemus ist «Meister» seines Fachs, «Meister in Israel» (3,10); auch Nikodemus verstellt seine Gelehrsamkeit, sein Habitus den Zugang zur entscheidenden Einsicht. Auch Nikodemus weiß nicht um die elementaren Sachverhalte; auch Nikodemus weiß nicht, wie man ein Kind wird; auch Nikodemus weiß nicht, wie man sich herunterneigt, demütigt, und so ins Reich Gottes eingeht. Schon der Bezug Hamanns auf Joh 3 macht die geistliche, grundsätzliche Bedeutung der Herausforderung deutlich.
Hamann erläutert: Es gehört zu einem solchen «Entwurf eine vorzügliche Kenntnis der Kinderwelt» (ZH 445,11f), mehr noch: die Bereitschaft, «sich zu ihrer Schwäche herunterzulaßen» (ZH I, 446,14f), die sich nur bei persönlichem Engagement einstellt, wenn man «einen Narren an den Kindern gefressen hat» und sie «liebt, ohne recht zu wissen warum» (ZH I, 446, 19-21).
D.h.: Erkenntnis ist Kommunikation, ist eine Bewegung, eine Beziehung, in die man sich einbringt und die den, der sich auf sie einlässt, verändert.
Hamann verdeutlicht genau an diesem mit Kant verabredeten Projekt, was für ihn erkenntnistheoretisch fundamental ist. Erkenntnis vollzieht sich nicht als Weitergabe von abstraktem Wissen; sie kann nicht auf Flaschen gezogen einfach weitergereicht werden. Sie verändert, den, der erkennt, wie den, der zu erkennen gibt. Die Gegensätze zwischen den Freunden sind aber unüberbrückbar.
Kant lehnt ab. Er sieht seine Rolle allein darin, sein Fachwissen zur Verfügung zu stellen, Erkenntnis wohlformuliert abzuliefern. Für Hamann dagegen ist Wissenschaft Gespräch, Kommunikation, Austausch, sich-Einlassen, auch: sich-Herunterlassen zu den Begriffen und Anschauungen eines Anderen.
Kant unterschätzt die Kommunikationsdimension von wissenschaftlicher Erkenntnis beträchtlich. Hamann macht sie deutlich. Er nimmt Impulse aus der Mitte des christlichen Glaubens auf, wenn er Erkenntnis und Kommunikation nicht anders denken kann, denn als Akt der Herunterlassung, der Herabneigung, des sich-Zubewegens auf den Anderen.
Genau das kann man ja am Projekt einer Physik für Kinder exemplarisch verdeutlichen: «Trauen Sie Kindern mehr zu, unterdessen Ihre erwachsene Zuhörer Mühe haben, es in der Geduld und Geschwindigkeit des Denkens mit Ihnen auszuhalten?» (ZH I, 445, 9ff) Hamann insistiert: «Das größte Gesetz für Kinder besteht also darinn, sich zu ihrer Schwäche herunterzulaßen; ihr Diener zu werden, wenn man ihr Meister seyn will; ihnen zu folgen, wenn man sie regieren will; ihre Sprache und Seele zu erlernen, wenn wir sie bewegen wollen die unsrige nachzuahmen» (ZH I, 446, 14-17).
Aber Kant verweigert sich. Was Kant schon bei Erwachsenen nicht gewillt ist, will er umso weniger bei Kindern. Seine Reaktion auf die insgesamt fünf Briefe, in denen Hamann das gemeinsam geplante Vorhaben erläutert, ist «Stillschweigen» (ZH I,448,9).
Es ist Kant offenbar, so folgert Hamann, «nichts daran gelegen, mich zu verstehen» (ZH I,448,28f).
(2) Kants Umgang mit Kritik
Es bildet sich hier bereits ab, was Jahre später ein Zeitgenosse über den dann berühmten Meisterdenker berichtet:
«Seine eigene Ideenfülle und die Leichtigkeit und Gewohnheit, alle philosophischen Begriffe aus der unerschöpflichen Quelle seiner eigenen Vernunft herauszuschöpfen [H. von hph], machte, daß Kant am Ende fast keinen andern als sich selbst verstand. […] Er, im eigentlichsten Sinne des Worts, ein origineller Denker, fand alles in sich selbst und verlor darüber die Fähigkeit, etwas in einem andern zu finden. Gerade zu der Zeit der höchsten Reise und Kraft seines Verstandes, als er die kritische Philosophie bearbeitete, war ihm nichts schwerer, als sich in das System eines andern hineinzudenken. Selbst die Schriften seiner Gegner konnte er nur mit der äußersten Mühe fassen, weil es ihm unmöglich war, sich auch nur auf einige Zeit aus seinem originellen Gedankensystem herauszusetzen. Er gestand dies selbst und gab gewöhnlich seinen Freunden den Auftrag, für ihn zu lesen, ihm den Inhalt fremder Systeme in Vergleich mit dem seinigen nach den Hauptresultaten mitzuteilen, und überließ es, vielleicht auch mit aus diesem Grunde, seinen Schülern und Freunden seine Philosophie gegen die Anfechtungen seiner Gegner zu schützen.» (Reinhold Bernhard Jachmann: Immanuel Kant geschildert in Briefen an einen Freund, Dritter Brief, Charakteristik des Kantischen Geistes, in: Borowski/ Jachmann/ Wasianski: Digitale Ausgabe, 114; Buch-Ausgabe, 130)
Es ist Kant, dem nunmehr anerkannten Professor, noch viel weniger daran gelegen, andere Positionen zu verstehen, gar sich auf die Positionen seiner Gegner einzulassen.
Es wäre aber viel zu kurz gegriffen, diesen Habitus rein psychologisch, etwa als Eitelkeit, Stolz, Überheblichkeit begreifen zu wollen und hier ein Argument ad personam zu konstruieren.
Vielmehr manifestiert sich der Typos einer auf sich selbst zurückgekrümmten, solipsistischen Vernunft.
Wenn man einen psychologischen Typos sucht, könnte man von einer autistischen Vernunft sprechen. Das ausgearbeitete, dem Anspruch nach zu Ende gedachte Denken findet «alles in sich selbst» und verliert darüber «die Fähigkeit, etwas in einem andern zu finden».
Kants Vernunft ist kommunikationsunwillig und kommunikationsunfähig. Sie ist sich ja selbst genug. Sie dreht sich nur um sich selbst. Sie ist der Bereicherung, Kritik, Korrektur durch andere weder bedürftig, so abgeschlossen wie sie ist, noch fähig, so verschlossen wie sie ist.
Kant fällt «nichts schwerer, als sich in das System eines andern hineinzudenken». Wo er sich auf alternative Positionen – scheinbar – einlässt, geschieht das bezeichnenderweise wieder nur so, dass er dabei sich selbst begegnet. Nicht fähig und nicht willens, andere Kritiker «reden» zu lassen, sie gar zu rezipieren, überlässt er es Freunden und Schülern, die kritischen Stellungnahmen dritter zu lesen und diese in sein, das Kantische System zu «übersetzen».
Durch diese Übersetzungsarbeit ist dann gewährleistet, dass Kant doch wieder nur auf die sein Denken auszeichnenden Distinktionen und Folgerungen trifft, die er – wie sollte es anders sein – für zutreffend hält.
Es kann ihn dann nur beruhigen, dass das Denken anderer, dass anderes Denken ihm unausgegoren, spannungsvoll, nicht stimmig erscheinen muss.
Kritische, dem eigenen Anspruch genügende, wissenschaftliche Kommunikation sieht anders aus. Es qualifiziert Kants Philosophie als autistisch, dass sie die Welt nur durch die eigene Brille sehen kann und will. Grund für diese solipsistische Haltung ist der schon dokumentierte Anspruch, alle Fragen abschließend geklärt und einen absoluten Standpunkt eingenommen zu haben.
Philosophie am Ende?
Kants Philosophie wirkt dadurch gewalttätig, dass sie unterstellt, zu letztgültigen Unterscheidungen, Begriffen und Folgerungen gekommen zu sein; dass jeder, der vernünftig denken will, in den Bahnen denken muss, die Kant gespurt hat; dass kein Raum bleibt für Alternativen; dass Kant es noch nicht einmal für möglich hält, dass es solche geben könne.
Eine Philosophie, die Keine Widerworte!, Keine Widerrede!, erträgt, wird zum Gefängnis und in der Folge, bis heute, zum Zufluchtsort für alle, die eine Feste Burg suchen und selber nur noch mit Widerwillen und Abwehr auf die reagieren können, die diese Absolutsetzung bloß geschichtlich gewordener, durch und durch zeitbedingter, bloß menschlicher Distinktionen in Frage ziehen.
2 Gedanken zu „300 Jahre Kant: Dominante Vernunft“
Es stellt sich die Frage, ob die evangelische Kirche, ähnlich wie Immanuel Kant, die Gottesfrage offen gelassen hat.
Nach meinem Kenntnisstand hat sich zuletzt Altbischof Dr. Wolfgang Huber (2003 bis 2009 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland EKD), ausführlich zu dieser Thematik geäußert.
“Wenn ein Theologe sich mit Kant beschäftigt, dann bejaht er das Ziel: die Frage nach Gott mit der Klarheit der Vernunft zu verbinden.”
Huber, Wolfgang (2004, Februar 12). Unsterblichkeit und Würde. Kant zu Ehren. St. Michaelis zu Hamburg auf Einladung der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der ZEIT-Stiftung. ekd.de/vortraege.htm, Abgerufen am 16.09.2024, von ekd.de/030216_huber_kant.html
“Das Argument des EKD-Ratsvorsitzenden [Wolfgang Huber], der Philosoph [Immanuel Kant] habe Vernunft und Glauben nicht auseinander gerissen, sondern einen Weg dazu gebahnt „dass der Gottesgedanke auch vor dem Forum der philosophischen Vernunft Bestand haben könne“ unterschlage, dass bei Kant nur noch ein schemenhafter Gottesgedanke übrig bleibe, „der gerade noch zur Unterscheidung von blankem Atheismus taugt“.”
Die Tagespost. (2007, September 20). Wider das kränkelnde abendländische Denken: Tagung in Schloss Spindlhof über Erwiderungen deutscher Gelehrter auf die Regensburger Vorlesung.
“Nicht darin, dass er [Immanuel Kant] die Gottesfrage zu Ende gebracht, sondern darin, dass er sie offen gehalten hat, liegt sein großes Verdienst.”
Huber, Wolfgang (2004, Februar 12). Unsterblichkeit und Würde. Kant zu Ehren. St. Michaelis zu Hamburg auf Einladung der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der ZEIT-Stiftung. ekd.de/vortraege.htm, Abgerufen am 16.09.2024, von ekd.de/030216_huber_kant.html
“Kant … nach meiner Überzeugung … der Philosoph des Protestantismus.”
Huber, Wolfgang (2004, Februar 12). Unsterblichkeit und Würde: Kant zu Ehren. Vortrag am 200. Todestag Immanuel Kants, gehalten in St. Michaelis zu Hamburg auf Einladung der Patriotischen Gesellschaft von 1765 und der ZEIT-Stiftung. Evangelische Kirche in Deutschland. Abgerufen am 1. Dezember 2024 von ekd.de/030216_huber_kant.html
(Michael Schalter, Meckenheim/Pfalz)
Wie hervorragend Kant Vernunft und die Gottesfrage, einschließlich der Unsterblichkeit der Seele, ihrem Leben vor und nach der physischen Geburt des Menschen zusammenbringen kann, zeigt er eindrücklich in seinen kaum bekannten “Vorlesungen über Psychologie”, weshalb ich diese als Zeitnotwendigkeit neu herausgegeben habe: https://www.epubli.com/shop/der-unbekannte-kant-9783758476686