Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 5 Minuten

Muss ich der Kirche vertrauen, um Gott zu vertrauen?

Wie ein geprügelter Hund verliess er die Kirche. Ich hätte ihn gerne umarmt. Es ist schon einige Jahre her, als ich in Peru in einer kleinen Kirche stand, die sich für einen kurzen Moment in einen Gerichtssaal verwandelt hatte.

«Juan wurde mit den Drogenabhängigen gesehen,»

hiess es plötzlich beim Kirchenkaffee. Weil Juan als Jugendlicher einige Jahre auf der Strasse gelebt hatte, waren die Schlüsse schnell gezogen: Sein altes, kriminelles Leben muss ihn eingeholt haben. Und so jemand darf natürlich nicht die Kirchenband leiten. So jemand darf höchstens schweigend im Gottesdienst sitzen – sofern er reumütig ist. Tränen fallen auf meine geballten Fäuste.

Verhaltenskodexe und ihre Grenzen: Viele Kirchen verlangen von ihren Mitgliedern eine vorbildliche Lebensführung – nicht nur in Peru. Die Verhaltenskodexe sind unterschiedlich detailliert, die Konsequenzen ähnlich: Wer sündigt, darf sich nicht mehr ehrenamtlich engagieren. Schliesslich soll die Kirche ein Ort sein, an dem die göttliche Liebe sichtbar wird – das darf nicht getrübt werden durch anstössiges Verhalten.

Gerichtssaal – ja bitte!

Wie ein geprügelter Hund verliess er die Kirche. Ich hätte gerne nachgetreten. Es ist schon einige Jahre her, als ich einen Artikel über den weltbekannten Prediger Ravi Zacharias las, bei dem es mir so übel wurde, dass ich meinen Laptop zuklappen musste.[1] Einem Mann, dessen Vorträge mich geprägt hatten, wurden zahlreiche sexuelle Übergriffe nachgewiesen. Über Jahre hat er Frauen systematisch manipuliert und missbraucht. Tränen fallen auf meine geballten Fäuste.

Wie ist es möglich, dass ein Mensch so etwas tun kann?

Noch dazu jemand, der von sich behauptet, einen Funken der göttlichen Liebe in sich zu tragen. So etwas darf es in der Kirche nicht geben! Schliesslich soll die christliche Gemeinschaft ein Ort sein, an dem die göttliche Liebe sichtbar wird.

Der Holzwurm in meinem Gottvertrauen

Mein Herz pendelt hin und her zwischen diesen beiden Erfahrungen und wirbelt eine Frage auf, die den Kern meines Glaubens trifft: Kann ich Gott noch vertrauen, wenn mich die kirchliche Gemeinschaft enttäuscht?

Ich vertraue darauf, dass die göttliche Kraft Menschen positiv verändern kann. Vielleicht ist das naiv. Aber es ist ein Hauptgrund, warum ich mich Christin nenne – ja, warum ich Pfarrerin geworden bin!

Weil ich diese Veränderung bei mir selbst und anderen entdecke. Doch die aufgewirbelte Frage frisst sich wie ein Holzwurm durch alle Momente, in denen ich meinte, die göttliche Kraft auf frischer Tat ertappt zu haben: Kann ich Gott also noch vertrauen, wenn mich die kirchliche Gemeinschaft enttäuscht?

Herzensangelegenheiten und Rotstifte

Was ich mit «Enttäuschungen» nicht meine, sind die üblichen zwischenmenschlichen Spannungen und Konflikte. Schliesslich tauchen wir hinter den Kirchenmauern nach unseren verborgenen Motivationen und bauen verwegene Zukunftshoffnungen – alles Dinge, die mich ganz tief im Innern betreffen.

Ich kann nicht erwarten, verletzungsfrei aus einem Raum zu gehen, in dem es ständig um Herzensangelegenheiten geht.

Was ich hingegen erwarte, sind rote Linien. Wenn jemand betet: «Gott, deine Liebe soll mein Leben prägen» – dann erwarte ich, dass der Heilige Geist einen fetten Rotstift auspackt und Linien zieht, welche dieser Mensch niemals überschreiten kann.

Hinter der Kirchenmauer

Und ich erwarte, dass Grenzüberschreitungen ernst genommen werden und Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Viel zu häufig höre ich noch Sätze wie: «Bei uns passiert sowas nicht», «Wir müssen doch unseren Leuten vertrauen!», oder «Es gibt überall böse Menschen – die Kirche ist nicht schlimmer als andere Organisationen».

Letzteres mag sein – aber als Kirche sollten wir besser sein.

Wenn wir einen Schutzraum bieten wollen für Menschen, die ihre ertrinkende Seele atmen lassen wollen, dann müssen wir die grösstmöglichen Geschütze auffahren, um Angreifer draussen zu halten. Das wird auch immer mehr versucht: Schulungen zur Prävention von Grenzverletzungen, Macht verteilen und kontrollieren, eine Kultur pflegen, in der Vertrauen wichtig ist, aber nicht blind. Doch es gibt noch immer Kirchenmenschen, die sich gegen diese Bemühungen sträuben. Das macht mich wütend.

Missbrauch hallt im Sakralraum

Mit hängenden Schultern betrete ich die Kirche. Leere Holzbänke. Dicke Säulen. Wie viele Gebete haben diese Mauern wohl schon gehört? Normalerweise lasse ich mich von den hohen Wänden nach oben ziehen, um mich etwas näher bei Gott zu fühlen. Aber heute funktioniert das nicht. Heute hallen mir in dem leeren Sakralraum Missbrauchsgeschichten und Machtkämpfe entgegen. Wenn Gott diese menschenfeindlichen Abgründe nicht aus der Kirche raushalten kann – warum sollte ich ihm vertrauen, dass er mein eigenes Herz davor schützt?

Eine Missbrauchsgeschichte im Zentrum

Mein Blick fällt auf das leere Kreuz an der Wand. Auch eine Geschichte von Machtmissbrauch: Jesus wurde von einem Freund verraten und von der religiösen Gemeinschaft gekreuzigt. Es gab keine roten Linien. Mich bewegt es, dass diese Missbrauchsgeschichte im Zentrum des Kirchenraums steht. Das Kreuz versammelt alle Schreie gegen Ungerechtigkeit – auch diejenigen, die gar nie an die Oberfläche kamen, weil sie von Scham erstickt oder von Maulkörben verhindert wurden.

Das Kreuz fordert uns dazu auf, zu schreien, wenn uns Ungerechtigkeit begegnet.

Wonach schreie ich?

Also schreie ich. Oder besser gesagt: ich singe kräftig – eine sozialverträgliche Form des Schreiens. Ich quetsche den ganzen Schmerz und die Wut zwischen meinen Stimmbändern durch und weil mir gerade kein anderes Lied in den Sinn kommt, formen meine Lippen die Worte:

Dona Nobis Pacem – gib uns Frieden.

Wenn ich aufgrund von all diesen Enttäuschungen die kirchliche Gemeinschaft verlassen würde, würde ich diese Hoffnung aufgeben. Die Hoffnung, dass eine Welt möglich ist, in welcher sich kein Mensch über einen anderen erhebt. Wo keine Schlafmittel oder Lavendelkerzen mehr nötig sind, um friedlich einschlafen zu können. Diese Hoffnung hält mich hier. Denn ich vertraue darauf, dass ich in diesem Raum immer Menschen finden werde, die mit mir schreien.

Die Kirchendecke durchbrechen

Warum Gott diesen Frieden nicht jetzt schon herbeischnippt, weiss ich nicht. Ich balle noch immer meine Fäuste und es fallen noch immer Tränen, wenn rote Linien überschritten werden. Mein Vertrauen in Gott und die Kirche ist immer noch morsch. Aber als mein Blick die Kirchendecke durchbricht und den Himmel sucht, habe ich wieder das Gefühl, dass jemand zurückschaut.

[1] Vgl. https://www.christianitytoday.com/2021/02/ravi-zacharias-rzim-investigation-sexual-abuse-sexting-rape/

Foto von John Towner auf Unspash

5 Gedanken zu „Muss ich der Kirche vertrauen, um Gott zu vertrauen?“

  1. Wir Menschen sind alle Menschen, die wenig Gottvertrauen haben. Gott hat aber bereits alles getan, was das Vertrauen in ihn rechtfertigt. Jesus Christus hat sein göttliches Leben dahingegeben und menschliches, d.h. leidvolles Leben angenommen. Es ist falsch zu meinen, Gott müsse doch noch etwas tun. Nein, das muss er eben nicht. Das Übel liegt ausschließlich in uns selbst und nur wir können es durch Gottvertrauen beseitigen. Menschen, die glauben/wissen, dass sie ewiges Leben haben können wie Jesus Christus alles ertragen, ohne sich zu wehren, ohne dagegen zu rebellieren. So hört die Feindschaft in der Welt auf. Es geht nicht nach unseren Vorstellungen, wie etwas zu sein hätte. https://manfredreichelt.wordpress.com/2020/08/12/aktives-nichtstun/ , https://manfredreichelt.wordpress.com/2021/05/01/alles-in-meiner-macht-stehende/ , https:// .wordpress.com/2017/03/24/511/ , https://manfredreichelt.wordpress.com/2019/05/14/das-himmelreich-ist-in-dir/

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    • Der Unterschied von kirchlichen Traditionen und biblischen Ansichten (und Absichten !) ist sehr unterhaltsam. Mich 84-jährigen Sofa-Sitzer verführte dieser Unterschied zu ein paar Reimen, um den kirchlichen Ungereimtheiten ein bisschen Spaß hinzuzufügen.

      Jona rettet die ERDE nicht…

      sondern Gott m i t seinem Ebenbild
      (und nicht gegen!)

      Am DU erkennt der Mensch erst sich
      und sagt zu sich schon sehr bald ICH,
      doch bald erkennt er – auch ganz flott –
      sich selbst als Ebenbild von Gott.

      Mit diesem Fokus allerdings
      noch mehr Tiefenschärfe bringt’s,
      dass mit solcherlei Gedanken
      die alte Welt fängt an zu wanken.

      Der Schöpfergott fragt immerzu
      sein Ebenbild aus ICH + DU:
      “Ist dir die Schöpfung gar nicht recht,
      dass du verwaltest sie so schlecht?”

      Herauszufinden gilt es nun,
      nach was für Regeln unser Tun
      ist am besten auszurichten,
      um die Welt nicht zu vernichten.

      Mir ist seit kurzem völlig klar,
      dass der Reim hier-nach ist wahr.
      Er stammt vom lieben Eugen Roth,
      und meint: „Mensch! Bist du schon tot?”

      Eugen Roth:

      “Ein Mensch sagt – und ist stolz darauf –
      er geht in seinen Pflichten auf.
      Bald aber, nicht mehr ganz so munter,
      geht er in seinen Pflichten unter.”

      ….und von Jotfried@gmail.com

      „Mit Arbeit verplempert man die meiste Zeit!”

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  2. Liebe Anna
    Da hast du aber ein schwieriges Thema angeschnitten. „Als Kirche sollten wir besser sein“, schreibst du. Auch wenn diese Tatsache extrem weh tut und beschämend ist, das sind wir leider vielmals nicht.
    Du schreibst von Ravi Zacharias. Das Krasse an dieser Geschichte ist für mich, dass Gott irgendwie doch mit solchen Menschen seine Geschichte schreibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott, als dieser ganze Missbrauch aufflog, total überrascht war. Wir haben Ravi ev. extrem auf einen Sockel gehoben und danach für unterirdisch angesehen, ich glaube Gott hatte ihn immer realistisch angesehen. Und diese Liste liesse sich noch endlos mit Bill, Bob, Carl usw. erweitern. 90% der biblischen Figuren würden es nicht bei uns in die ehrenamtliche Mitarbeit schaffen. Weil sie „rote Linien“ überschritten haben.
    Ich finde, das ist die Herausforderung, sich dieser Spannung zu stellen.

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    • Merci für deine Gedanken, Chrigi!
      ich bin da echt etwas hin und her gerissen. Ja, es ist sehr ermutigend, dass Gott auch durch und mit Menschen etwas bewegt, die fehlerhaft sind – sonst hätte er ja auch niemanden zur Verfügung 😉
      Aber eigentlich wünschte ich mir, dass er gerade nicht durch Ravi gewirkt hätte – sondern ihn von dem Sokel herunter geholt hätte, auf den wir ihn gestellt haben.

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  3. Natürlich muss/kann/darf ich der Kirche nicht trauen !

    Warum ?

    Für die “Welt von gestern” steht Weihnachten vor der Tür. Aber mein Kalender hat vom 1. Januar bis zum 31. Dezember die Jahreszeit 2024. Das macht das ganze Jahr zu Weihnachten und “sozialisiert mich mit dem Schöpfer”.

    Stattdessen macht “die Kirche” (trotz ihrer unzähligen Zersplittertheit) den Firlefanz von Tannenbaum und Weihnachtsmann & Co alle Jahre wieder neu mit.

    Evtl hilft das Zauberwort von Eichendorff ?

    Es schläft ein Lied in allen Dingen,
    die da träumen fort und fort,
    und die Welt hebt an zu singen,
    triffst du nur das Zauberwort.

    (Eichendorff – 1835)

    Es ist das Wort ZWISCHENZEIT. Das ist das Eichendorff-Zauberwort, weil nur in besagter Zwischenzeit von Zukunft und Vergangenheit findet die uns alle tragende Wirklichkeit statt. Einschließlich der Präsenz Gottes !

    Hier kommt eine Frage:

    Hat die Welt eine Seele?
    Antwort: Aber ja doch . . .

    Herzliche Grüße, Jürgen Friedrich

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