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 Lesedauer: 5 Minuten

Der Horror der Maske

Verkleidungsfeste

Monatelang dauerte die Quarantäne schon. Und wer kennt im Jahre 2020 nicht die Erfahrung, dass es leichter ist, eine Sache hochherzig zu beginnen, als sie treu und verbindlich in den Niederungen des Alltags durchzuhalten? Immer größer wird die Sehnsucht nach Abwechselung. Und so kommt man schließlich auf die Idee, einen fantasievollen Maskenball zu feiern.

Verkleidungsfeste haben etwas Faszinierendes.

Wer eine Maske trägt, kann für eine Zeitlang jemand anders sein, und vielleicht wichtiger: Er muss nicht mehr der sein, der er sonst ist.

Das kann sehr befreiend sein.  Während seiner Rolling Thunder Revue Mitte der 1970er Jahre trat Bob Dylan konsequent geschminkt oder mit Maske auf. Im Interview mit Martin Scorsese zu dessen Netflix-Doku Rolling Thunder Revue. A Bob Dylan Story sagt Dylan: „Wenn jemand eine Maske trägt, sagt er die Wahrheit. Wenn jemand keine Maske trägt, ist das sehr unwahrscheinlich.“ (Min. 32,30ff.)

„All the world’s a stage“

Das klingt zunächst einmal steil. Aber ist das nicht die alte Shakespeare‘sche Erkenntnis: „All the world’s a stage.“ Wir alle spielen Rollen, die meisten mehr als eine. Das heißt auch: Wenn Menschen Masken tragen, setzen sie die Masken ab, die sie sonst tragen. Masken können entlasten, weil Masken so belastend sind. Für ganze Berufsgruppen gehört eine psychosoziale Maskenpflicht zur Geschäftsgrundlage ihrer Tätigkeit. Sie sind freundlich, zuvorkommend, lustig und lustvoll, weil sie dafür bezahlt werden. Masken können kleine Fluchten sein, wenn man sie nicht tragen muss, sondern sie trägt, weil man es will.

Masken können entlasten und belasten. Je nach Grund, weswegen man sie trägt.

So feiert man also einen Maskenball und gönnt sich eine Auszeit von sich selbst und der angespannten Situation. Alle spielen mit. Nur ein Gast tanzt aus der Reihe. Er erscheint als der Rote Tod. Gezeichnet von Blut und Aussatz der Pest, die draußen wütet, schreitet er langsam durch die Festversammlung. Zorniges Zischeln begleitet seinen Weg, denn „auch in den Herzen der Übermütigsten gibt es Saiten, die nicht berührt werden dürfen.“ Was erlaubt sich dieser Mensch? Soll das ein Protest sein gegen diese festliche Zerstreuung? Versteht er nicht, dass wir Tag und Nacht davon belastet sind und das alles einmal vergessen wollen?

Horrorgeschichte

Einmal mehr unterscheidet sich Prinz Prospero von allen anderen durch seine Beherztheit und Tatfreude. Diesem Gast will der Prinz die Maske vom Gesicht reißen. Denn diese Maske konterkariert den Sinn eines Maskenballs. Und so wird diese Erzählung zur Horrorgeschichte. Der Fremde trägt keine Maske. Er zeigt nur sein wahres Gesicht. Da hat sich keiner als Tod verkleidet. Es war der Rote Tod selbst. Das ist ganz buchstäblich grauenhaft. Denn nun beginnt das große Sterben, allen bisherigen Anstrengungen zum Trotz. Aber auch die Symbolik ist furchtbar.

Kann man sich eine grauenvollere Erkenntnis vorstellen als: Da steckt nichts dahinter; das ist einfach so?

Wir sehen es in unserer Welt. Viele können, wollen und werden nicht glauben, dass da nichts hinter steckt. Dass Corona nur ein Virus ist, einfach ein Unglück, ein Zufall, eine Laune der Natur. Das ist so einschneidend, das ist so gigantisch von seinen Folgen her, da muss doch was oder besser jemand dahinterstecken! Sonst gäbe es gar keinen Sinn in all dem, es wäre einfach nur real und das war es auch schon.

Sinnfindung

Man macht es sich bisweilen leicht, die Verschwörungstheoretiker unserer Zeit zu verspotten, denen es einfach am Respekt vor der Wissenschaft fehlt. Schon recht. Aber vielleicht sollten wir uns vom Unsinn dieser Zeit daran erinnern lassen:

Der Mensch lebt nicht nur vom Wissen, das er erwirbt, sondern vom Sinn, den er für sich findet.

Von der Bedeutsamkeit, die etwas für ihn gewinnt. Von der Fähigkeit, Dinge irgendwie einzuordnen in einen größeren Zusammenhang, in eine Geschichte, die mir ein Woher und ein Wozu stiftet. Orientierungslosigkeit wird nicht durch Wissen behoben.

Und weiter:

Ist es nicht die Kernidee der Religion, dass nicht alles einfach ist, wie es ist, sondern dass da was dahintersteckt?

Gereifte Religion

Dass das Gute, das geschieht, nicht nur einfach Zufall ist, sondern Gabe, Geschenk? Dass nicht alles sinnvoll ist, was geschieht, Sinn entdeckt werden kann, mit dem und für den man leben kann? Müsste nicht spätestens mit dem Aufblühen der Verschwörungstheorien die Stunde der Religion schlagen? All der Unsinn von neuer Weltordnung usw. war zumindest ein Zeichen, dass das menschliche Sinnbedürfnis real ist.

Die Maske des Roten Todes ist eine Horrorgeschichte. Denn sie verweigert jeden Sinn. Es gibt keine Erklärung, wie der Tod ins Schloss gelangte. Keinen Schuldigen. Nichts, was sich daraus lernen ließe. Am Ende steht einfach der Tod. Und der Tod ist keine Maske, hinter der es irgendeinen Sinn zu finden gibt. Als der Tod kam, heißt es lapidar: „Er war gekommen wie ein Dieb in der Nacht.“ Dieses Bild wurde von Jesus von Nazareth geprägt: plötzlich und unerwartet wie ein Dieb in der Nacht – wird das Reich Gottes hereinbrechen (Lk 12,39; 1Thess 5,2). Poe münzt dieses Bild auf die Macht des Todes. Der Tod allein wird kommen und jede Frage – nicht erlösen, sondern auflösen. Es gibt keinen Sinn. Mehr Horror geht nicht. Ist das – der Sinn dieser Erzählung? Aber ist es nicht paradox zu sagen, der Sinn besteht darin, dass es keinen Sinn gibt? Vielleicht lässt sich auch dieses lernen.

Verzweifelte Religion will in allem einen Sinn finden. Reife Religion erlaubt es, auch mit der Erfahrung der Sinnlosigkeit noch sinnvoll umgehen zu können.

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