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Der göttliche Entscheid

Es geschah nach dem Weihnachtsfest im letzten Jahr. Als der Engel Gabriel von Betlehem in den Himmel zurückgekehrt war, verlangte er, sogleich den Herrn zu sprechen. Es sei äusserst dringend, erklärte er dem Büroengel im göttlichen Vorzimmer. Gott wunderte sich, was es denn so kurz nach Weihnachten Dringendes zu besprechen gebe, und liess den Erzengel zu sich kommen. «Wir müssen etwas tun», fiel dieser sogleich mit der Tür ins Haus. «Die ganze Welt redet von Diversität und wir haben jedes Jahr einen weissen Knaben als Retter der Welt in der Wiege. Daran können wir nicht länger festhalten. Wir sollten rasch entscheiden, wie wir beim nächsten Weihnachtsfest Diversität in der Krippe sicherstellen, bevor uns die Kontrolle über die Heilsgeschichte entgleitet.»

Gott hatte den Ausführungen Gabriels aufmerksam zugehört und als er geendet hatte, erteilte er ihm einen Auftrag: Er solle mal im Himmel herumfragen und jene Weisen konsultieren, die in Fragen der Diversität irdische Erfahrung hätten, sie nach ihrer Einschätzung fragen und ihm dann umgehend Bericht erstatten. Gabriel bedankte sich und machte sich an die Arbeit.

Als ersten Weisen konsultierte er Noah, der in seiner Arche gemeinsam mit vielen anderen Lebewesen die Sintflut überlebt und die Erde wieder bevölkert hatte. «Nun, bei uns hat sich halt damals das Zweierprinzip – von allen ein Paar – bewährt», antwortete Noah, als ihn Gabriel nach seiner Empfehlung fragte. «Dieses Prinzip liesse sich natürlich auch auf Weihnachten anwenden. Jedes Jahr könnte ein Mädchen und ein Knabe unterschiedlicher Hautfarbe in der Krippe liegen, die zudem immer wieder auch ganz unterschiedliche Eigenschaften hätten. So bliebe die Identität des Christkinds fluid. Damit wäre schon viel an Diversität gewonnen.»

Gabriel notierte den Vorschlag und begab sich zur Prophetin Miriam. Sie hatte einst, gemeinsam mit ihren Brüdern Moses und Aaron, die Israeliten durchs Rote Meer und die Wüste geleitet und war eine ausgewiesene Führungsperson. «Ich habe mich schon immer gefragt, warum nicht ein Mädchen die Welt rettet», sagte Miriam lachend und schlug dann vor, dass von jetzt an für die nächsten 2000 Jahre ein Mädchen in der Krippe liege. Damit wäre die Forderung nach Chancengleichheit endlich erfüllt und die Frauenquote würde quasi rückwirkend korrigiert.

Gabriel notierte sich auch diese Empfehlung und suchte als nächstes Abraham auf. Dieser hatte schon vom Kommen des Erzengels erfahren und als Gabriel ihn nach seiner Einschätzung fragte, erklärte er nachdenklich: «Wie du weisst, habe ich zwei Söhne; den Isaak und seinen älteren Halbbruder Ismael, der zum Stammvater der Araber und dem Urahn des Propheten Mohammed wurde. Seit über 2000 Jahren wird jeweils an Weihnachten im Stall von Betlehem ein Nachkomme meines Sohnes Isaak geboren. Es wäre zu bedenken, ob nicht auch einmal ein Kind aus der Nachkommenschaft Ismaels an Weihnachten in der Wiege liegen könnte.»

Gabriel hielt auch diesen Vorschlag in seinen Notizen fest und machte sich auf den Weg zum weisen Salomo. Dieser meinte, alles habe seine Zeit, auch die Diversität. Mehr könne er dazu nicht sagen, aber Gabriel solle sich doch an die Königin von Saba wenden. Diese könne als Afrikanerin und langjährige Herrscherin Äthiopiens Empfehlungen geben, die auf persönlichen Erfahrungen beruhten. Die Königin empfing Gabriel freundlich und antwortete auf seine Frage, wie man das Problem zeitgemäss lösen könnte: «Es gibt so viele unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Hautfarbe. Da fällt es mir schwer, mich auf ein einzelnes Kind festzulegen, das die Welt erlösen soll.»

Gabriel war etwas verunsichert, was das nun für die zeitgemässe Umsetzung der Heilsgeschichte bedeutete, notierte aber alles und verabschiedete sich von der Königin. Der letzte Name auf seiner Liste war jener der Maria. Also machte sich Gabriel auf zu Maria und bat auch sie um ihre Empfehlung. Maria dachte lange nach. Dann sagte sie: «Es ist doch einfach ein Menschenkind, das da an Weihnachten im Stall von Betlehem geboren wird und es trägt alles in sich, was uns zu Menschen macht; alles, was wir sind, alles, was schon war, und alles, was sein könnte. Gemeinsam mit allen Kindern, die in der Weihnachtsnacht geboren werden, wird es die Welt erlösen und den Menschen Frieden bringen.»

Gabriel dankte Maria für ihre Worte und eilte in sein Büro. Dort hielt er alle Meinungen und Empfehlungen in einem ausführlichen Bericht fest. Dann ersuchte er beim Vorzimmerengel wieder um einen Gesprächstermin beim Herrn und erhielt ihn sogleich. Gott empfing Gabriel freundlich, blätterte im Bericht, dankte Gabriel und verabschiedete ihn mit einem Lächeln.

Und so warten Gabriel und die Welt nun auf den göttlichen Entscheid, welch ein Kind künftig an Weihnachten jeweils in der Krippe liegt.

 

Photo by Joseph Ruwa from Pexels

Sechzehn weitere Weihnachtsgeschichten von Rolf Probala findest du in seinem neuen Buch „Aus heiterem Himmel“, das kürzlich im TVZ-Verlag erschienen ist.

1 Kommentar zu „Der göttliche Entscheid“

  1. Eines ist klar, das wird lange dauern. Ich meine, das mit dem Geschlecht männlich – weiblich ist ja simpel und doch kaum befriedigend lösbar. Und das mit der Hautfarbe läuft eindeutig auf eine permanente Ungerechtigkeit hinaus. Tja, und dann alle die Hautfarbigen, die sich zwischen dem volkstümlichen männlich und weiblich bewegen? OK, Jesus hat keine Nachkommen im biologischen Sinn erzeugt. Sein Geschlecht also irgendwie nicht ganz ernst genommen oder so. Oder war er vielleicht selber …? Das ganze Narrativ gerät ins Wanken. Es bleibt nur die Hoffnung, dass wir das mit der KI und den Androiden vielleicht in den Griff kriegen. Man müsste dann vorab noch regeln, welche Marke (google, amazon, oracle, ibm …) im jeweiligen Jahr dran ist. Die Lage ist komplex und die Verbesserung derselben ganz klar Chefsache. Naja, wir kennen das ja mit den Chefs, schuld sind dann immer die Andern.

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