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 Lesedauer: 5 Minuten

»Er ist Gott und er sieht mir ähnlich!«

Das andere Weihnachtsspiel

Heiligabend vor 80 Jahren. In einem Lager nahe der Stadt Trier stellen Kriegsgefangene eine Uraufführung auf die Beine. »Bariona oder Der Sohn des Donners.« Es geht um einen jüdischen Dorfvorsteher. Er muss den Einwohnern von Bethsur die neuste Steuererhöhung der römischen Besatzer verkaufen. Und dabei fasst er den Plan, die Macht Roms zu unterlaufen. Wie? Indem es irgendwann keine Steuerzahler mehr gibt. Er verlangt von seinen Männern, keine Kinder mehr zu zeugen. Was er nicht ahnt: Seine Frau Sarah ist schwanger. Als er davon erfährt, drängt er sie, das Kind zu töten. »Frau, dieses Kind, das du gebären willst, ist wie eine neue Ausgabe der Welt.«

Bariona hält es für eine »ungeheure Taktlosigkeit«, wenn man »von der missratenen Welt neue Exemplare« machen würde.

Mitten in diese Situation fällt die Nachricht von der Geburt des Messias. Bariona verbietet seinen Leuten, nach Bethlehem zu gehen. Aber sie sind nicht zu halten. Noch nicht mal seine Frau bleibt bei ihm: »Ich liebe dich, Bariona. Aber versteh mich doch! Dort unten ist eine Frau überglücklich! Eine Mutter, die für alle Mütter geboren hat. Und es ist, als hätte sie mir die Erlaubnis gegeben, die Erlaubnis, mein Kind zur Welt zu bringen.« Fürchterlich alleingelassen beschliesst Bariona, dem trügerischen Messiasspuk ein Ende zu machen und das Kind zum Wohle des Volkes zu töten. Als er den Stall in Bethlehem betritt, sieht er nur die Augen Josefs, die »zwei klaren Himmelsflecken«, wie sie auf dem Säugling ruhen. Er bringt es nicht übers Herz, diesen Blick zu verfinstern: »Wenn ich den Mut hätte finden wollen, dieses junge Leben zwischen meinen Fingern auszulöschen, hätte ich es nicht vorher in den Augen seines Vaters wahrnehmen dürfen. So bin ich denn besiegt.«

Bariona selbst wird von der Freude, dem Glück, der Hoffnung und den Liedern der Menschen im Stall nie ergriffen werden. Er bleibt draussen und schaut sich die »trügerische Macht des Glaubens« aus der einsamen, dunklen Nacht heraus an. Und doch sehnsüchtig, wie neidisch. Seine rechte Hand würde er drangeben, um an den »entzückenden Betrug« glauben zu können. In dieser unerklärlichen Verbundenheit beschützt er schliesslich die Eltern und den Neugeborenen. Todesmutig stellt er sich mit seinen Männern den römischen Soldaten in den Weg.

Die andere Völkerwanderung

Ich finde dieses Theaterstück schon deshalb bemerkenswert, weil jener Kriegsgefangene, der es 1940 schrieb, zu einem der schärfsten Kritiker des Glaubens wurde – Jean-Paul Sartre. Vor allem aber spricht die Völkerwanderung, die in diesem Spiel verarbeitet wurde, auch mitten in unsere Zeit  hinein. Sie veranschaulicht eine seelische Heimatlosigkeit, die für die Gegenwart symptomatisch geworden ist.

Gläubige wie Nichtgläubige ziehen aus ihren bisherigen Behausungen aus. Die einst bewährten Herbergen sind – warum auch immer – nicht länger der Raum, in dem man Gott, sich selbst oder das Leben findet. Spätmoderne Seelenwanderung.

Für die einen haben Gott und Kirche die alte Glaubwürdigkeit eingebüsst: »Ich finde da einfach nicht mehr statt!« Die anderen verlieren den Glauben auch, etwa an die Demokratie, die Erfolge des modernen Lebens, die Verheissung des Menschseins oder sich selbst. Und ein Virus intensiviert das alles noch.

So treffen wir uns in neuen Zwischenräumen und fragen, was würdig ist, von uns geglaubt zu werden. Woran wollen wir eigentlich glauben?

Erstaunlich, wer sich da alles tummelt, sei es auf Querdenker-Demos oder auf RefLab. Wie in jener Kirche, in der ich im Herbst mit wackligen Knien ein Paar getraut habe. Die beiden konnten in den vergangenen Jahren nicht anders als Gott gehörig auf Abstand zu bringen. Eine Art atheistische Trauung war das. Als mir tiefgläubige wie religionslose Gäste im Laufe des Abends mit leuchtenden Augen erzählten, dass sie das alles höchst spirituell erlebt hatten, war ich den Freudentränen nahe.

Die andere Glaubwürdigkeit Gottes

In den Zwischenräumen pulsiert die Sehnsucht danach, mit den Menschen, der Welt und dem Leben im Bunde zu sein. Das Verlangen nach resonanten Beziehungen, in denen ich gesehen und erkannt werde, mich fürs Leben verbinde und Leben entbinde. Selbst Barionas Herz, das er »mit dreifachem Panzer gepanzert« hat, fängt da an zu schmelzen.

Aber wie können wir unser Herz in die Hand nehmen, uns trauen, das grosse Ja zum Leben zu sprechen, solange wir unsere ganz grosse Einbindung nicht glauben können?

Solange wir – wie Bariona – dem Schöpfer des Lebens unterstellen, seine Gottheit vor uns schützen zu müssen? Solange wir am Grunde allen Lebens aggressive Konkurrenzverhältnisse statt liebevolle Verbundenheit vermuten?

Ein Gott, der bereit wäre, sich ohne jegliche Schutzkleidung und jenseits aller Hygienevorschriften mit uns zu verbinden, an den könnte selbst ein Bariona glauben. Er hält es zwar für Blödsinn, dass Gott »bereit wäre, diesen salzigen Geschmack kennenzulernen, den wir im Mund haben, wenn die ganze Welt uns verläßt«. Aber glaubwürdig wäre er schon: »Wenn ein Gott für mich Mensch würde, für mich, liebte ich ihn, ihn ganz allein. Es wären Bande des Blutes zwischen ihm und mir, und für das Danken reichten alle Wege meines Lebens nicht.«

So treffe ich mich mit Bariona an jenem Ort und zu der Zeit, da Gott für uns glaubwürdig wurde: Weihnachten!

Ein Gott, der seine Behausung verlässt, um mir im Zwischenraum zu begegnen. Kein Gott, der sich eigentlich vor mir ekelt, aber dann mit widerwilliger und herablassender Gnade kommt.

Auch der wurde mir unglaubwürdig. Vielmehr ein Gott, der mit Lust und Liebe kommt, der sich selbst im Menschsein erkennt, damit ich mich in ihm erkennen möge. So, wie Sartre sich Maria vorgestellt hat: »Sie betrachtet ihn und denkt: ›Dieser Gott ist mein Kind. Dieses göttliche Fleisch ist mein Fleisch. Er ist aus mir gemacht, er hat meine Augen, und diese Form seines Mundes ist auch die Form von meinem:

Er sieht mir ähnlich. Er ist Gott, und er sieht mir ähnlich.‹«

2 Kommentare zu „»Er ist Gott und er sieht mir ähnlich!«“

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