Noch nie hatten es Selbstdarsteller und Grössenselbst-Menschen leichter als heute, sich zu inszenieren. Social Media ist ein riesiger roter Teppich für grandiose, Neid provozierende Selbstdarstellungen.
Die Grenze zu Fake-Identitäten ist fliessend, die kognitive Dissonanz zwischen Real-Selbst und Ideal-Selbst oft enorm. Dass impression management in unserer Gesellschaft belohnt wird, erklärt wohl auch die Beliebtheit von Hochstapler- und Betrügerserien wie «Der Tinder-Schwindler» oder, neu beim monopolistischen Streamingdienst mit dem Anfangsbuchstaben N: «Inventing Anna». Beide beruhen auf wahren Begebenheiten.
«Inventing Anna» basiert auf der Geschichte einer deutsch-russischen Hochstaplerin und Modebesessenen: Anna Sorokin/Delvey, die Mitglieder der New Yorker High Society um Millionen Dollar zu betrügen versuchte, im Kunstmilieu connaisseurhaft unterwegs war, sich mit schwindelerregenden Konstruktionen, Lügen und dem Geld anderer als pfiffige Unternehmerin profilieren wollte, aber jäh im Gefängnis landete. Ein zeitgenössischer Robin Hood ist sie aber nicht, weil sie Arme verachtet.
Charmante Blender
Als die junge Frau zwischenzeitlich freikam, hat sie sich wie eine Getriebene wieder in betrügerische Hochstapelei geworfen, ihre Social-Media-Accounts reaktiviert («Anna is back!») und in einem Luxushotel eingecheckt, ohne bezahlen zu können. Vom Gefängnis heraus hat die Tochter eines russischen Lastwagenfahrers und Migrantin schliesslich die Rechte für die Verfilmung ihrer Biografie an den Streamingdienst verkauft.
Auch der sein blendendes Aussehen als Trumpfkarte einsetzende Tinder-Schwindler Simon Leviev, der Frauen bei Fake-Dates um Hunderttausende Dollar betrogen hat und in Israel ins Gefängnis kam, hat ehrgeizige Zukunftspläne: eigene Show, Podcast, Buch. Vom Schwindler zum Influencer scheint der Weg kurz zu sein.
Bei Narzissten, zumal gestörten, ist das Grössenselbst unendlich gefrässig, anerkennungssüchtig, aggressiv bemüht, die innere Leere zu überspielen, und anstrengend: für den Narzissten selbst und sein Umfeld. Und obwohl das so ist, gelingt es Blendern und Hochstaplerinnen in unterschiedlichsten Lebensbereichen und auf verschiedensten Levels immer wieder, mit ihrer Masche durchzukommen, ja mehr noch: bewundert oder sogar beneidet zu werden.
«Es sagt mir unendlich viel, ob jemand mit einem Zwergpinscher, einer deutschen Dogge oder einem Rottweiler in meine Praxis kommt», erklärte mir der Psychiater und Psychoanalytiker Hinderk Emrich.
Die Wahl des Haustieres gibt Auskunft über das «Grössenselbst» eines Menschen, so heisst in der Psychologie das grandiose Ich oder Wunsch-Image.
Maus statt Pitbull
Aber nicht nur für Hochstapelei bietet die Leistungsgesellschaft einen geeigneten Nährboden, sondern auch für ein Phänomen, das sich konträr zur klassischen Hochstapelei verhält: das Hochstapler-Syndrom. Betroffene haben das Gefühl, anderen etwas vorzumachen. Sie sind gerade nicht von der eigenen Grandiosität durchdrungen, sondern vom Gegenteil: der Angst, in der Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft kläglich zu versagen. Sie sind, symbolisch gesprochen, nicht mit einem Pitbull unterwegs, sondern mit einer räudigen Maus.
Vom Hochstapler-Syndrom Betroffene fürchten jeden Moment, dass es auffliegen könnte, dass sie im Grunde Schwindler sind und nichts können. Das ist extrem anstrengend, kräfteraubend und ein Garant für chronische Überforderung und Unglücklichsein.
Eine Prüfung gelingt, eine gute Note wird erzielt, Lehrerinnen oder Vorgesetzte drücken ihre vollste Zufriedenheit aus, man bekommt dickes Lob, aber denkt: Es war reines Glück, Zufall, weil ich im Grunde nichts kann. Ganz sicher liegen meine Erfolge nicht an Talenten oder Fähigkeiten. Und deswegen empfinde ich auch nicht Freude oder Stolz, sondern höchstens Erleichterung. Und auch das nur vorübergehend: weil eine überstandene Herausforderung bei meinen Mitmenschen die Erwartungen weiter hochschraubt und bei mir die Versagensangst.
Studien von Psycholog:innen haben ergeben, dass das Hochstapler-Syndrom verbreiteter ist als man denken würde. Überproportional betroffen sind Menschen, die aus kleineren Milieus beruflich und gesellschaftlich aufsteigen, z.B. Akademiker:innen aus Nicht-Akademikerfamilien. Sie werden den Eindruck nicht los, an der falschen Stelle zu sein und in einer grundlegenden Überforderung. Auch Frauen in klassischen Männerberufen und -positionen sind von dem Syndrom betroffen, das auf Englisch impostor phenomenon heisst und in den 1970er-Jahren erstmals beschrieben wurde.
Raus aus der Selbstquälerei
Mit Hochstaplern haben vom Hochstapler-Syndrom Geplagte gemeinsam, dass sie sich selbst nicht für Hochstapler halten. Echte Hochstapler sind vom Gefühl durchdrungen, dass ihnen eine grandiose Existenz zusteht, z.B. ein elitäres Jetset-Leben, privater Swimmingpool, Highend-Konsum, grosse Karriere, fette Boni.
Vom Hochstapler-Syndrom Betroffene schlagen mitunter Aufstiegsangebote aus oder flüchten sich in Prokrastination, quälendes Aufschieben von Aufgaben. Oder sie stürzen sich in übermässige Arbeit, weit über die persönlichen Belastungsgrenzen und die Verträglichkeit mit dem Familienleben hinaus. Und selbst in privaten Beziehungen kann sie die Sorge umtreiben, der Partner oder die Partnerin könne herausfinden, dass sie im Grunde gar nicht toll und liebenswert sind.
Was hilft: Sich der Problematik bewusst werden und sich täglich selbst sagen, das es o.k. ist, wie ich bin, dass ich es gut genug mache und «gut genug» genügt u.ä. Vielleicht auch Zettel mit ermutigenden Sätzen auf den Nachttisch legen.
Vom Hochstapler-Syndrom Betroffene weisen im ersten Moment meist weit von sich, dass sie mit Hochstapelei irgendetwas zu tun haben. Hochstapler, das sind sie in der eigenen Wahrnehmung am allerwenigsten, weil sie sich ja gering fühlen. Aber da ist eben die verräterische Angst aufzufliegen, die sie mit den Hochstaplern teilen.
Ein jüdischer Witz bringt das Problem auf den Punkt: «Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß!»
Photo by Carlos Alberto Gómez Iñiguez on Unsplash