Ich pilgere seit Jahren zu Biennalen und documentas. Auf Mottos achte ich kaum, weil es in der Regel Containerfloskeln sind, die so klingen, als habe sie ein Computer automatisch generiert. Anders die Überschrift des zentralen Ausstellungsteils der diesjährigen Berlin Biennale in den Kunst-Werken (KW) – diese hat mich aufhorchen lassen: ›Antichurch‹
Die Berliner Kunstbiennale, muss man wissen, ist zwar nicht so altehrwürdig wie die Venedig-Biennale, aber hier ist man definitiv näher dran an jenem ominösen ›Puls der Zeit‹.
Und die KW an der Galerienmeile Auguststrasse im schönsten Berlin-Mitte bilden das programmatische Herzstück des Events, das sich Bundesmitteln verdankt. Der Titel ›Antikirche‹ ist also nicht nichts.
Die neue Antichurch
Ich greife zum Telefon und erkundige mich in der PR-Abteilung, was mit ›Antikirche‹ gemeint sei. Ist es vielleicht sogar das geheime Motto der aktuellen Berlin Biennale? Die Frau auf der anderen Seite der Leitung schluckt, rudert und probiert ein paar eingeübte Floskeln aus. Als sie merkt, dass es mich wirklich interessiert, sagt sie, sie glaube, dass es den Kurator*innen um eine ›Gegenerzählung‹ zu einer weissen, patriarchalen, kirchlichen Erzählung gehe. Sie verweist auf die südamerikanische Herkunft der vier Biennale-Macher*innen und eines Grossteils der eingeladenen Künstler*innen.
Hat die Biennale südamerikanische Diskurse nach Berlin importiert, frage ich nach? »Nein, es ist schon die westliche Welt und deren kirchlich-patriarchale Grundstruktur gemeint.« Ich verweise auf Berlin als säkulare Stadt, mitten im entchristlichten Osten Deutschlands. Ja, aber in Südamerika, meint die PR-Mitarbeiterin, seien »grosse Teile des Lebens sehr wohl bis heute von einer sehr katholischen und sehr christlichen Struktur dominiert«.
Patriarchen, Priester, Kriminelle
Ich möchte klarer sehen, buche das erste verfügbare Slot-Ticket und schnappe meine Corona-Maske. An der Pforte begrüsst mich ein Aluminium-Desinfektionsmittelspender und ein Poster mit programmatischen Sätzen der Biennale-Macher*innen:
»Können wir unseren kollektiven Körper von patriarchalischer Gewalt und der Gefahr, die sie darstellt, befreien? Nach wie vor feiern die Massen den weissen Vater, den Priester und den Staatsmann, der von seiner nationalistischen Kanzel herab predigt. In der gesichtslosen Menge der Anbetenden drängt sich Leib an Leib. Die sexualisierte Politik des Faschismus manifestiert sich im Zusammenspiel mit der ekstatischen, alle Häretiker*innen erfassenden Repression. In ihren zahlreichen Mutationen setzt die Religion des Kolonialkapitalismus den kriminellen Amoklauf gegen die wachsende Mehrheit der Ungläubigen fort. Diese wiederum wenden sich von den alten, blassen Göttern und ihren Fundamentalismen ab, vandalisieren Kathedralen, verkünden, dass auch ihre Statuen stürzen werden. Der Klerus insistiert, der heidnische Feind sei mächtig, unsichtbar und omnipräsent, und glücklicherweise stimmt das etc.« [1]
Rückwärts in die Zukunft
Das klingt krass-polemisch und provokativ, auch angesichts wachsender Fälle von Kirchenvandalismus. Schon der erste Raum vermittelt aber ein differenzierteres Bild. Es ist kein Gewaltaufruf gegen Kirchen, sondern umgekehrt eine Konfrontation mit kirchlicher Gewalt:
»Rückwärtsgang 2020« ist eine scharfe politische Anklage gegen die nachlässige Corona-Politik des brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro, der sich evangelikaler Unterstützung erfreut, und gleichzeitig eine Hommage an den Architekten, Künstler und Schriftsteller Flávio de Carvalho (1899-1973).
Le Corbusier bezeichnete diesen als »romantischen Revolutionär«. Carvalho ist 1931 mit einem grünen Samthut in entgegengesetzter Richtung durch eine Fronleichnamsprozession marschiert, um Reaktionen der Gläubigen zu studieren. Angeblich ist der Künstler, der manchmal auch im Ballettröckchen durch São Paulo gelaufen ist, damals von Gläubigen fast gelyncht worden.
In der zentralen Halle der KW verdichten sich religiöse Anspielungen wie auch Ambivalenzen. Besucher*innen nähern sich fast schüchtern einem riesigen Altar von Pedro Moraleida Bernardes. Der Altar ist mit sadistischen Höllenszenen übersät und hat die Form eines Dreizacks, der im Altertum für Poseidon/Neptun stand und in der christlichen Symbolik zum Teufelszeichen mutierte. Der Schöpfer, ein brasilianischer Kunststudent, hat sich 1999 mit nur 22 Jahren das Leben genommen. Woran ist der junge Mann zerbrochen?
Kreuz und queer
Vor dem verstörenden Altar liegt ein Kranz aus Christusfiguren. Es ist das Werk des Südkoreaners Young-jun Tak. Die lebensgrossen Gekreuzigten sind mit Anti-LGBTQI-Propagandaflyern christlicher Fundamentalist*innen aus Südkorea beklebt, die queer Liebenden Konversionstherapien aufdrängen wollen.
Die Form der verschränkten Christusse verweist auf Aktionen Gläubiger, die die jährlichen Pride Parades in Seoul stören, indem sie sich in ähnlichen Formationen auf den Boden werfen.
Das Kunstwerk verknüpft die Figur des Gekreuzigten mit Massnahmen, mit denen Menschen, die sich christlich wähnen, Mitmenschen zwangsweise ›normieren‹ und ›normalisieren‹ wollen. Wer ist hier antichristlich, wer christlich? (Die pseudochristliche koreanische Sekte Shincheonji, ›Neuer Himmel und neue Erde‹, fällt übrigens auch in Berlin auf: durch aggressives Sheep Stealing.)
Eine neue Befreiungstheologie
In einer Art Nebenkapelle gelangen Besucher*innen in einen SM-Keller. Vor roten Samtvorhängen läuft ein Video mit einer verkehrten Kreuzigungsszene in Endlosschleife. Der Darsteller stöhnt, die Aktion scheint ihm Schmerzen wie auch Lust zu bereiten. Auf der gegenüberliegenden Wand interpretiert ein Transvestit im Kastratenton hingebungsvoll Gabriel Faurés endzeitliches Requiem. Dazwischen läuft eine Lecture-Performance einer queeren Theologin mit grün lackierten Fingernägeln.
Linn Marie Tonstad erklärt, dass sich queer und christlich sehr wohl verbinden lasse – und sie selbst ein Beispiel dafür sei. Es reiche jedoch nicht zu sagen, Queere seien Marginalisierte und für Marginalisierte sei in Kirchen Platz – sondern es gehe um das Queere des Christentums selbst.
Inspiriert ist der dreifaltig bespielte Raum von dem Buch »Indecent Theology: Theological Perversions in Sex, Gender and Politics« der argentinisch-britischen Theologin Marcella Althaus-Reid (1952-1999), die zu Paul Ricœur und Befreiungstheologie gearbeitet hat.
Queerfront statt Querfront
Die 11. Berlin Biennale sensibilisiert für ideologische Gewalt, wie sie auch von Kirchen ausgeht; in Südamerika derzeit sicherlich stärker als in Europa, wo Kirche allgemein auf dem Rückzug ist. Gleichzeitig taucht die Vision einer Art von Queerfront auf, in der sich auch weltoffene Christ*innen einreihen.
Auf eine ›Antikirche‹ bin ich bei meinem Rundgang nicht gestossen, aber auf suchende und fragende Bewegungen. Wieso wird in der Welt immer weiter gefoltert und Missbrauch getrieben? Ist Lust ohne Schmerz möglich? Wo verlaufen Fronten? Wie können wir aus Gewaltspiralen auszubrechen? Welche neuen Allianzen sind denkbar?
Gleichzeitig sind mir blinde Flecken aufgefallen. Was ist beispielsweise mit christlichen Opfern von ideologisch motivierter Gewalt? Die Zahlen sind weltweit gesehen keineswegs gering. Könnte auch dieses Problem Aufnahme in eine Kunstbiennale finden? Und wäre als analoges Motto ›Antimoschee‹ denkbar, wo es ebenfalls Macht- und Gewaltstrukturen zu kritisieren gilt?
Manche Christen werden sich vielleicht ärgern, dass wieder einmal das Christentum und die Kirche Zielscheibe der Kritik zu sein scheinen. Aber erstens ist – bei genauerem Hinsehen – die Kunst vielschichtiger und uneindeutiger als das Motto nahelegt. Und zweitens: Verdienen Populisten wie Trump oder Bolsonaro nicht eher diesen Ärger? Jene Politiker, die mühsam erkämpfte soziale Errungenschaften infrage stellen, Freiheiten torpedieren und Naturschutzmassnahmen zurückdrehen – und in all dem eifrig von christlichen Fundamentalisten unterstützt werden?
Young-jun Tak, Chained, 2020
Harz, Glasfaser, Papier, Klebstoff
Installationsansicht, 11. Berlin Biennale, KW Institute for Contemporary Art, 5.9.–1.11.2020
Courtesy Young-jun Tak
Foto: Silke Briel
2 Gedanken zu „Antikirche!“
Wie wäre es gewesen, wenn man ohne kuratorische Programmformeln gearbeitet hätte? Dann hätten diese Kunstwerke für sich sprechen können. Ich schließe aus dieser schönen Ausstellungskritik, dass die Deutungsmacht von Kuratorinnen und Kuratoren entschiedener zu befragen wäre. Mich stört diese Mischung aus vermeintlicher Radikalität, sachlicher Unkenntnis und Branchen-Jargon.
Danke für die Kommentierung! Akademische Kuratorenphilosophie auf der einen und Eigensinn der Kunst auf der anderen Seite – das fällt tatsächlich oft auseinander oder beißt sich. Im konkreten Fall habe ich den Eindruck, dass sich Kurator*innen und die von diesen eingeladenen Künstler*innen/Aktivist*innen aber tatsächlich weitgehend auf die selben Grundlagen, Theorien und Issues stützen und gemeinsam einen Brückenschlag zwischen queeren, dekolonialen, ökofeministischen und indigenen Ansätzen versuchen. Identitätspolitik mischt sich in kreativer Weise mit Ökoanliegen. Ästhetik geht in Ethik über und Kunst in Aktivismus bzw. Action Anthropology. Neu scheint mir der Schulterschluss von Gegenwartskunst und Befreiungstheologie (in sehr weitem Sinn). Zum polemischen Unterton: Der stört mich auch. Finde ich nicht produktiv.