Inhaltsangabe
Der “Konflikt” um Lochers “Auffälligkeiten in seinem Leben” habe “die Öffentlichkeit in keiner Weise zu interessieren”. Locher sei ein Opfer eines Komplotts feministischer, moralischer und reformationspuristischer Vorstellungen geworden, deren Vertreter*innen sich an Locher rächen wollten. Hochstrasser plagt ein weiterer Gedanke: “Der Fall Locher soll nach dem landesüblichen Vorgehen gelöst werden: Beschwerde, Untersuchungen, Geschäftsprüfungskommission, externe Beratung.” Genau dieses Vorgehen sei doch aber nicht kompatibel mit der Botschaft Jesu. “Orientierten sich die Federführenden am Nazarener, schlügen sie andere Wege ein.” Nämlich Versöhnung. Aus all dem schliesst Hochstrasser: “Ich kann alle verstehen, die jetzt sagen: Schluss! Ich trete aus der reformierten Kirche aus, nicht wegen Locher, sondern seiner Häscher wegen.” (Hier geht es zum ganzen Kommentar.)
Mit heisser Nadel gestrickt
Bestimmt: Dieser Text ist mit heisser Nadel gestrickt. Wut, Empörung und der altbekannte Hang zur Skandalisierung sind überdeutlich spürbar. Aber gerade in dieser Form legt er ein Mindset offen, das viele Menschen immer noch teilen, auch wenn sie gelernt haben, das besser zu kaschieren. Die Prämissen dieses Weltbilds sind folgende:
- Privat ist privat. Es geht keinen etwas an, was XY in seiner Freizeit macht.
- Die gesellschaftliche Mitte ist bedroht durch einen immer mächtiger werdenden Feminismus.
- In der Kirche / im Verein XY gehen wir doch nicht so untereinander um. Wir halten Vergehen bedeckt, damit niemand beschämt wird. Das verstehen wir unter Nächstenliebe.
- Wenn es mir nicht passt, gehe ich.
Ein übles Weltbild
Die Elemente 1-3 sind hervorragend geeignet, um Unrecht unter dem Deckel zu halten. Es geht keinen etwas an. Das sind sowieso die Weiber. Wir klären das bei einem guten Rotwein unter uns Jungs. Dass Hochstrasser, der selbst von der Römisch-Katholischen Kirche in die Reformierte Kirche geflohen ist, der den Missbrauchsschlamassel, der seit 2010 ans Licht kommt, mitverfolgt hat, kann einen daran zweifeln lassen, dass Menschen im Alter weiser werden. Es als das senile Gewäsch eines aufmerksamkeitsheischenden Rentners abzutun, geht aber auch nicht: Facebookkommentare zeigen, dass er damit beinahe Mainstream bedient.
Deshalb 3 Gegenthesen:
- Es gibt private Belange, die nicht an die Öffentlichkeit gehören. Aber nicht alles, was intim ist, ist privat. Und wo Privates sich mit den Möglichkeiten einer Macht verbindet, die einem qua Amt zu kommt, endet die Privatssphäre. Nicht verstanden? Welche Kaugummis der Präsident isst, ist seine Sache. Ob er die Quittung dafür bei den Spesen abgibt, nicht.
- Fast keine Bewegung zieht dermassen viel Hass und Ablehnung auf sich, wie der Feminismus. Dabei gibt es “den” Feminismus und “die” Feministinnen gar nicht. Es gibt aber viele Mitglieder unserer Gesellschaft, die sich gegen die Ungerechtigkeit, mit der alte Rollen- und Menschenbilder verbunden sind, wehren. Lieber Josef: Der Feminismus ist nicht dein Feind. Ausser du hängst an einer Rolle, die keiner mehr will.
- Nein. Unrecht nicht anzusprechen ist keine Nächstenliebe. Dadurch werden immer nur Opfer bevormundet und Täter*innen geschützt. Einen Vorwurf zu untersuchen ist keine Vorverurteilung, sondern ein Standard für die Vertrauenswürdigkeit jeder Organisation. Ein Jesus-Bild zu vertreten, das zu möglichen Opfern sagt: Hey, das ist eure Privatsache. Seid mal still und macht kein Aufheben!, ist schon nicht ganz intuitiv…
Zum vierten Punkt möchte ich gar nichts sagen. Ausser vielleicht: Gute Reise. Vielleicht findest du Schafe, die dumm genug sind, in dir einen Hirten zu finden.
5 Gedanken zu „Ach Josef! Erzähl das den dummen Schafen…“
Sehr geehrter Herr Jütte: da haben wohl zwei mit “heisser Nadel” gestrickt. Ihr Kommentar und Ihre drei Gegenthesen erwecken den Anschein, als seien es reine Verstandes- und Vernunftsargumente, was Sie Herrn Hochstrasser absprechen. Mir liegt es fern, die beiden Aussagen zu kommentieren, aber auch bei Ihrem Text stand der Bauch Pate. Stellen Sie sich nur einmal vor, dass nach Abschluss und eventueller Offenlegung aller Fakten das Ergebnis zu Gunsten von Herrn Locher sprechen würde und alles ein “Sturm im Wasserglas” war: wird dann Herr Locher, ganz ohne Vorverurteilung, sein Amt wieder erhalten?
Lieber Stephan
ich wollte dir und deinem Team schon länger mal gratulieren für eure sehr ansprechende und inspirierende Plattform. Kirche ganz weit und auf der Höhe der Zeit mit ganz unterschiedlichen Akzenten. Da der Mensch aber oftmals viel schneller auf das Negative reagiert als auf das Positive, schreibe ich meinen ersten Kommentar, nachdem mich dein Artikel über den Kommentar von Josef Hochstrasser genervt hat. Der populistische Ton in deinen Worten und das “in die konservativ-patriachale Ecke” stellen von Josef Hochstrassers Kommentar kann ich mir nur erklären, dass du im Fall Locher persönlich involviert und daher emotional befangen bist. Denn genau so, wie wir als Kirche in der Verantwortung stehen keinerlei Formen von Übergriffen zuzulassen und zu vertuschen, sollten wir auch keine neuen Tabus erschaffen – z.B. die Art und Weise zu hinterfragen, die zum Rücktritt von Locher geführt hat. Ich empfehle daher für ein nächstes Mal vor dem Schreiben dreimal tief durchzuatmen – oder ein Podcast von holy embodied zu hören 😉
Liebe Grüsse
Daniel Baumgartner, Pratteln
Lieber Daniel,
herzlichen Dank für dein kritisches Feedback. Natürlich bin ich persönlich nicht unvoreingenommen. Allerdings hätte ich die RefLab-Plattform nie dazu benutzt, gegen die EKS oder ihren Präsidenten zu schreiben. Es geht mir in diesem Beitrag nicht um Locher. Es geht mir um ein bestimmtes Mindset, das ich wirklich gefährlich finde und das uns als Kirche schadet. Selbstverständlich soll man nach den Gründen des Rücktritts fragen! Das ist ganz in meinem Sinn. Aber Hochstrasser fragt nicht, sondern konstruiert einen Komplott. Und er tut dies im Rückgriff auf überkommene Ressentiments und Zerrbilder. Das habe ich versucht darzulegen.
Btw: Ich habe nie den Rücktritt gefordert, sondern transparente Kommunikation. Dies zu verlangen ist keine Vorverurteilung, sondern eine wichtige Säule für die Glaubwürdigkeit der Institution. Schon krass, dass das nicht selbstverständlich ist, sondern als Angriff und als Misstrauen gewertet wird.
Herzlicher Gruss! Und viel Spass mit allen anderen Beiträgen 😉
Stephan Jütte
Lieber Stefan Jütte,
Sie kennen ja das Tu-quoque-Argument, und es liegt bei Ihrem Beitrag nahe: “auch mit heisser Nadel gestrickt”, heisst es bei Christian Meyer, und ich würde sagen: “auch ein Hang zur Skandalisierung”. Wenn es Ihnen nur um das “Mindset” ginge, müssten Sie Herrn Hochstrasser nicht als Person disqualifizieren. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass Sie ihn nur als Rentner bezeichnen: als “illustren Rentner” und möglicherweise als “aufmerksamkeitsheischenden Rentner”. Die Möglichkeit, seine Meinung als “seniles Gewäsch” abzutun, wird zwar abgewiesen, aber das heisst, dass sie doch kurz wenigstens, erwogen wurde. Am Schluss wünschen Sie ihm dann nur noch, ein Hirte für dumme Schafe zu werden. Das ist kein würdiger Umgang mit dem Gegner, dessen Mindset diskutiert werden soll. Es wäre gut reformatorisch, die Person und ihre Ideen zu unterscheiden, wie es auch im Falle Gottfried Lochers gut reformatorisch wäre, daran zu erinnern, dass eine Person nie auf die Summe ihrer Handlungen zu reduzieren ist. Deshalb würde ich gerade anders als Herr Hochstrasser argumentieren: Keine billige Vergebung, alles soll rechtlich abgeklärt werden, Beschwerde soll behandelt werden, Unrecht offen gelegt werden. Aber dann warte man ab, was herauskommt, und verzichte auf eine vorverurteilende Aechtung der Person, wie sie jetzt gerade in Presse und Oeffentlichkeit grassiert. Ich bin jedoch auch nur ein (langsam senil werdender) Rentner…
Lieber Pierre Bühler,
danke für diesen Kommentar. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass der polemische Stil gegen die Person als unangebracht empfunden wird. Die Sache mit dem Rentner war fies. Das anerkenne ich und das würde ich heute anders schreiben. Was bleibt, ist mein Entsetzen über die Prämissen des Weltbildes, das den Kommentar Josef Hochstrassers trägt.
Zu Locher: Ich habe mich nicht dazu geäussert, in welchem Verhältnis die Rechtfertigungslehre zu seiner Lebensführung steht. Ich kann das aber hier gerne tun: Niemand, auch er nicht, darf als Mensch auf das reduziert werden, was er tut. Wir sind aufgehoben in einem anderen Blick, in einer anderen Zuwendung und gehen auf eine andere Zukunft zu. Noch ist nicht erschienen, was wir sein werden.
Aber was bedeutet das für das Recht? Es heisst eben nicht, dass angesichts der Gnade Gottes der Mensch zu einer vorauseilenden, die möglichen Opfer übergehenden Vergebung berufen ist. Es braucht Aufklärung und das Unrecht – wenn es eines gibt! – soll offen gelegt werden. Dafür und nur dafür habe ich mich mit den elf anderen Unterzeichner*innen stark gemacht in dem Brief.
Es mutet mir seltsam an, dass Locher jetzt das Opfer einer Kampagne sein soll. Er war Gegenstand anständig formulierter Fragen politisch legitimierter Vertreter*innen aus den Kirchenräten vierer Kantone. Niemand hat ihn (vor-) verurteilt. Aber – auch in der Kirche – schulden wir einander Rechenschaft in ordentlichen Verfahren.
Ich finde es bedenklich, dass unsere Gesellschaft und unsere Kirchen es normal finden, wenn Frauen, die einen Vorwurf gegen mächtige Männer erheben immer gleich als Kampffeministinnen, Racheweiber oder ähnliches abgetan werden.
Man kann beides: Den Menschen achten, die Vorwürfe ernst nehmen und damit die Person zur Verantwortung ziehen.
Herzlicher Gruss!