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Siegesgebet

Anlässlich des ersten Jahrestags des russischen Überfalls auf die Ukraine gab es vielerorts Einladungen zu Friedensgebeten. Ich aber mochte nicht mitbeten. Es gelang mir zu meiner eigenen Überraschung nicht einmal eine interpassive Beteiligung; also froh zu sein, dass wenigstens andere den transzendenten Gott um ein baldiges Kriegsende und um Frieden bitten, wenn ich mich schon nicht dazu aufraffen kann.

Fehlt mir an dieser Stelle der notwendige Glaube an die «Kraft des Gebets»? Oder geht es bei «Friedensgebet»-Anlässen gar nicht so sehr ums Gebet, sondern um politische Friedensdemonstrationen? Aber wirkt das Medium des Gebets dann nicht vollkommen zahnlos, wo es doch reale Bomben und Granaten hagelt?

Droht nicht genau mit solchen Friedensgebetsanlässen und unverbindlichen Friedensapostelapellen das Bild eines depolitisierten Christentums bestärkt zu werden?

Wohlfühlveranstaltungen

Vielleicht, so könnte man denken, geht es vor allem um Selbstberuhigung. Gemeinsam fällt es erfahrungsgemäss leichter, mit Ängsten und Sorgen fertig zu werden, zumal solch’ diffusen, wie sie die unabsehbare Dynamik von Kriegen mit sich bringt. Wer weiss schon, ob es nicht auch mein Land demnächst hart erwischt?

Aber den Menschen in realen Kriegsgebieten hilft es natürlich nicht, wenn sich Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz, in Deutschland oder in anderen geschonten Regionen für die Dauer einer solchen Veranstaltung, einer Wohlfühlveranstaltung, erleichtert fühlen.

Siegesgebete

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Mir ist es lieber, wenn Christ:innen um Frieden bitten als wenn sie, wie es bekanntermassen die Orthodoxie des russischen Patriarchats tut, um Sieg beten. Wenn um Sieg gebetet wird, so handelt es sich nicht mehr um Friedensgebetsanlässe, sondern um Siegesgebetsveranstaltungen.

Dass ich mir mit dem Medium Friedensgebet schwertue, ist in erster Linie wohl eine persönliche Idiosynkrasie. Idiosynkrasien, also individuelle Abneigungen, spezifischen Widerwillen oder Überempfindlichkeit haben wir oft, ohne Gründe nennen zu können. Ich kann mir aber vielfältige Arten vorstellen, in denen andere Menschen tatsächlich Mut und Kraft aus religiösen Friedensgebetsanlässen christlicher und anderer Provenienz schöpfen und dann auch aktiv werden.

Friedensaktivist:innen

Oder sie sind längst aktiv, sind engagierte Friedensaktivist:innen und Flüchtingshelfer:innen, und Friedensgebetsanlässe sind für sie auch das: wichtige Kontaktbörsen und Gelegenheiten zu Absprachen über das notwendige weitere Vorgehen in ganz konkreten Krisenlagen.

Genau in diesem, dem aktivistischen Kontext bekommt das Gebet um Frieden einen Sinn, der mir einleuchtet.

Im pazifistischen wie auch im klimaaktivistischen Bemühen und im Ringen um soziale Gerechtigkeit – oder sagen wir ruhig: Kampf – braucht es Momente des Innehaltens, des Passivismus vor dem Aktivismus.

Eine andere Dimension

Die christliche Klimajugend etwa bemüht sich bewusst darum, einer transzendenten Dimension mit Gebeten Raum zu geben. Gemeinsam innezuhalten, bevor es wieder mit Aktionen und Protesten losgeht, schenkt Distanz, einen klaren Kopf und vertieft das Gemeinschaftserleben und das Gefühl einer umfassenden Verbundenheit.

Hier bekommen Gebete etwas zutiefst Politisches.

Den nächsten Friedensgebetsanlass möchte ich wahrnehmen.

 

Foto von Sunguk Kim auf Unsplash

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