Vor zwei Jahren veröffentlichte ich einen Blogpost mit dem Titel: «Empathie verträgt kein ‘aber’». Anlass war, dass Menschen die Schuld für den verheerenden Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 teilweise bei Israel selbst suchten und so die Ermordung, Vergewaltigung und Entführung von Zivilist:innen relativierten. Dem stellten wir uns damals klar entgegen und das gilt heute noch genauso.
Schnell wurde deutlich, dass dieser Krieg auch auf der palästinensischen Seite sehr viele Menschen ihr Leben kosten würde. Die Not in Gaza wurde und wird immer schlimmer. Israel vertreibt, tötet und zerstört. Und dass die Hamas die Geiseln nicht freilässt, bietet eine Grundlage dafür, diesen Krieg fortzuführen.
Was heisst denn «Empathie»?
Immer wieder habe ich mich selbst auch kritisch gefragt, ob ich den gleichen Titel wie im Oktober 2023 auch über einen Artikel über Israels Vernichtungskrieg gegen die Hamas, bei dem die betroffene palästinensische Bevölkerung völlig egal zu sein scheint, setzen würde.
Und ja, es bleibt so: Empathie verträgt kein «aber».
Empathie heisst, wahrzunehmen, wie es dem Gegenüber geht, sich auf die Erlebenswelt anderer einzulassen, wie es die Schweizer «Empathie Initiative» formuliert.
Die Bereitschaft dazu wird getragen von der Überzeugung, dass Menschen grundsätzlich alle die gleichen Gefühle und Empfindungen haben.
Der Begriff der Menschenwürde stützt diese Überzeugung. Aus christlicher Perspektive wird er einerseits von der bedingungslosen Liebe Gottes zu jedem Menschen abgeleitet, andererseits vom Geschaffen-sein in Gottes Ebenbild.
Gleichzeitigkeit aushalten
Die SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie» vom vergangenen Wochenende ist dazu enorm hörenswert. Darin sagte der israelische Politologe José Brunner u. a., er gehe an keine Demo mehr für die Befreiung der Geiseln, weil er dort das Leid in Gaza nicht ansprechen könne.
Die Gleichzeitigkeit menschlichen Schmerzes aller Betroffenen kann offenbar nicht ausgehalten werden.
Empathie scheint in diesem Krieg und bei den Unterstützenden weitgehend verloren gegangen zu sein. Genauso auf der Pro-Palästina-Seite: Antisemitische Vorfälle nehmen zu, vor allem in Form von Äusserungen an Kundgebungen, wie ein gestern veröffentlichter Bericht zu Antisemitismus in Deutschland feststellte. Es ist erschreckend salonfähig geworden, das Existenzrecht Israels und damit auch der dort lebenden Menschen zu negieren.
Das Leid muss beendet werden
Die politischen und psychologischen Legitimierungsversuche von Kriegstreibern auf beiden Seiten stehen vor einem hochkomplexen historischen und ideologischen Hintergrund. Der Verweis darauf darf allerdings nicht bedeuten, dass man sich gar nicht mehr äussern sollte und etwa von beiden Seiten einen Waffenstillstand fordern kann.
Das Leid muss endlich beendet, die Geiseln freigelassen, humanitäre Hilfe ermöglicht werden.
Hingegen ist Empathie zu haben auch nicht gleichbedeutend damit, sich für eine Seite zu entscheiden und sich zu positionieren.
Dies wird jedoch heute oft gefordert: Beide Seiten des Konflikts instrumentalisieren Empathie politisch, wie vor ein paar Tagen auch der Polit-Analyst Andreas Krieg in einem Interview mit CH Media erläuterte. Mit der Forderung nach Empathie und Menschlichkeit gegenüber einem Teil der betroffenen Menschen (den israelischen Geiseln bzw. der palästinensischen Bevölkerung) wird anderen das Leiden abgesprochen. Diese Forderung ist eine unnötige Zerreissprobe.
Die «abers» eliminieren
Empathie erinnert uns daran, dass wir als Menschen «zusammengehören, ob wir es wollen oder nicht» (Wortlaut Empathie Initiative).
Sich das immer wieder bewusst zu machen und die «abers» zu eliminieren, genau das ist Empathie. Und darin liegt auch ihre Kraft: Offen zu sein, mitzufühlen, weil wir als Menschen einander ähnlich sind – ungeachtet all dessen, was uns im Detail unterscheidet.
Artikel: «Zum Nahostkonflikt: Empathie verträgt kein ‘aber’»
RefLab «Stammtisch» mit Adrian Förster von «Save the Children»: «Adrian Förster, wie können wir den Menschen in Gaza helfen?»
Interview mit der palästinensischen Filmemacherin Nisreen Yaseen: «Verlorene Zeit und flüchtige Freiheitsmomente»
«Stammtisch» mit der «Empathie Initiative»: «Sonja Wolfensberger: Wir bringen Empathie zurück»
Artikel «Warum man Würde nicht verlieren kann»
Foto: Emad el Bayed/Unsplash








6 Gedanken zu „Zwei Jahre Gaza-Krieg: Empathie verträgt kein «aber»“
Ehrlich gesagt überfordert mich das Thema Empathie in diesem Zusammenhang komplett. Gelitten wird in den Familien auf beiden Seiten. Ich kann und will meine Empathie nicht auf auf eine Seite beschränken. Eine selektive Empathie ist ja eher Sympathie oder rationale Nähe zu verbindenden Idealen oder Umständen. Ich habe mich also innerlich distanzieren müssen weil ich mich ansonsten ständig herausgefordert fühle eine Position für oder gegen jemanden einzunehmen. Doch ich bin gespannt was Gott noch tut, der die Schreie der Fremdlinge, der Witwen und der Waisen hört.
Hallo “Ratlos”, danke für den Kommentar. Die Überforderung kann ich gut nachfühlen… Liebe Grüsse, Evelyne
Voll einverstanden: Empathie mit Opfern und Leidenden verträgt und braucht kein “aber”!
Schwierig wird es jedoch, wenn – was unbedingt auch notwendig ist – z.Bsp. in einem sorgfältig recherchierten Artikel historische, politische und andere Hintergründe dargestellt werden. Da muss und darf es verschiedene “Jedoch”, “Aber”, “Einerseits-Andererseits” – Differenzierungen geben. Ich habe im Zusammenhang mit der Thematik leider oft die Vermischung erlebt, dass auch bei solchen Äusserungen mit dem Verweis auf die Empathie notwendige Analysen weggeschoben, verhindert oder gar diffamiert wurden.
Danke für den Kommentar. Da hast du natürlich völlig recht, aber eben, das sind zwei unterschiedliche Ebenen. Liebe Grüsse!
Vielleicht steht mein Kommentar etwas schräg in der Gesellschaft. Ich möchte gerne über Empathie an sich sprechen. Im Artikel steht:
“Die Bereitschaft dazu wird getragen von der Überzeugung, dass Menschen grundsätzlich alle die gleichen Gefühle und Empfindungen haben.”
Meine Erfahrung ist, dass andere meine Gefühle prinzipiell missinterpretieren. Wenn ich interessiert und euphorisch bin, empfinden das andere als angriffslustig und wütend, um nur ein Beispiel zu nennen. Umgekehrt habe ich Schwierigkeiten, die Gefühle anderer einzuordnen und mitzuempfinden.
Zudem hat Empathie zwei Seiten: Erstens den anderen zu verstehen, und dann entsprechend zu handeln. Empathie, verstanden als gemeinsame Interpretation von Gefühlen, kann genauso verwendet werden, um zu manipulieren.
Dann ist da noch die Unterscheidung zwischen affektiver und kognitiver Empathie: Erstere ist die fast magische Fähigkeit, tatsächlich zu erspüren, wie es dem anderen gefühlsmässig geht, zweitere ist die Annahme, wie ich mich selbst fühlen würde, wenn ich in dieser Situation wäre. Hochsensible Personen haben oft eine grosse affektive Empathie, während die meisten Menschen hauptsächlich kognitive Empathie anwenden, und das ist von der Annahme abhängig, dass wir grundsätzlich gleich empfinden.
Empathie ist oft auch abhängig von unseren Wertvorstellungen. Wir können uns in ähnlich denkende Menschen viel besser einfühlen. Das ist klar im Licht der kognitiven Empathie: Der andere legt ähnliche Massstäbe an, wenn er seine Gefühle interpretiert, da er ähnlich denkt.
Es fällt mir schwer, mit den Hamas-Terroristen Empathie zu empfinden, aber ich kann nachvollziehen, wie eine Frustration und fehlende Handlungsfähigkeit unter entsprechenden externen Erwartungen und Prägungen zu diesen Handlungen führen können.
Empathie braucht ein “Aber”. Das “Aber” beinhaltet die Überprüfung, ob die eigene Interpretation Sinn ergibt. Welche Beweggründe lassen mich Empathie empfinden? Schliesse ich zu stark von mir auf den anderen? Kenne ich die Hintergründe? Helfe ich mit meinen Aktionen, oder werde ich zur Partei?
Danke für den durchdachten Kommentar und die persönlichen Erzählungen! Das hat alles Hand und Fuss, was du schreibst.
Als Kontext zu meiner Verwendung von “Empathie”: Ich beziehe mich ja immer wieder auf die “Empathie Initiative”, wo ich einen Grundkurs in gewaltfreier Kommunikation gemacht habe. In diesem Zusammenhang nehme ich Empathie so wahr, dass ein grosser verbaler Anteil dabei ist: Jemand erzählt mir, was er/sie fühlt, oder umgekehrt. Ich muss es also nicht interpretieren, sondern ich erfahre, dass jemand ängstlich/wütend/hungrig/traurig/fröhlich/hilflos etc. ist, und kann damit in Resonanz gehen. Das führt dann auch nicht zwingend zu einer Handlung – das wäre nochmals auf einer anderen Ebene und ist auch nicht immer gleich möglich.