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 Lesedauer: 5 Minuten

Zu viel des Guten

Vom Strom mitgerissen

Bei all meinen bisherigen Rombesuchen habe ich nie die Sixtinische Kapelle besucht. Jetzt, unter Coronabedingungen, geht das leicht und ohne Anstehen.

Als Besucher passiert man dabei zunächst eine Eingangskontrolle, holt sein Audioguide-Gerät ab und durchschreitet mehrere Hallen, Säle und Zimmer der vatikanischen Museen. Würde man diese Strecke im Laufschritt und ohne andere Besucher:innen zurücklegen, könnte man sie vielleicht in 10 Minuten schaffen. Uns blieben 30 Minuten, damit wir, unserem zugewiesenen Zeitfenster entsprechend, es rechtzeitig in die Kapelle schaffen. Zu Beginn habe ich meinen Audioguide noch an jeder Station benutzt. Aber die Erklärungen langweilten mich bald und ich liess mich vom Strom der anderen Besucher mitreissen. So schafften wir es, nur wenig verspätet, vorfreudig, aber auch ziemlich erschöpft, in der Kapelle anzukommen.

Klein und etwas dunkel

Nun, nachdem man durch die prachtvolle Kartensammlung und an vielem Grossartigen, was die geistlich bewegte Kunst über Jahrhunderte geschaffen hat, vorbeigeilt ist – natürlich hat man sich für den sagenhaften Caravaggio wenigstens 20 Sekunden Zeit genommen – wirkt die Sixtinische Kapelle irgendwie klein, etwas dunkel und beinahe enttäuschend.

Die Decke über uns und die Wand am Eingang hat Michelangelo gemalt. In zwei unterschiedlichen Lebensphasen: Die Decke als Mitdreissiger in vier Jahren, die Stirnwand über 20 Jahre später. Als er nach fünfjähriger Arbeit damit fertig war, war er 66 Jahre alt. Goethe hat einmal gesagt, dass niemand abschätzen könne, wozu ein Mensch fähig sei, ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben.

Die Geschichte

Tatsächlich: Welche Vorstellungskraft und Orientierung muss dieser Mensch gehabt haben, um diese Decke von über 500 Quadratmetern zu strukturieren und in dieser Struktur mit 115 überlebensgrossen Charakteren eine Geschichte auszudrücken, die einen 20 Meter weiter unten fesselt. Es ist eine für die damalige Welt universale Heilsgeschichte von der Schöpfung über den Sündenfall bis zu Jesus. Mit dem Christentum kommen die griechischen und die altisraelischen Weissagungen zu ihrer Erfüllung.

Das Jüngste Gericht an der Stirnwand ist ein gigantisches Gemälde, das durch einen perspektivischen Trick noch gewaltiger wirkt: Michelangelo hat die Figuren umso grösser gemalt, je weiter sie vom Betrachter entfernt sind. Welche Gesichter er diesen Figuren gegeben hat! Ob er beim Gesicht des Minos, der von einer Schlange am Eingang zur Hölle in seinen Penis gebissen wird, einen unliebsamen Bekannten vor Augen hatte?

An der Oberfläche

Darüber höre ich vom Audioguide nichts. Die grossen Worte, mit denen die Stimme über die Höhe und Breite der Kapelle, die teuren Farben oder die Ausdruckskraft staunt, bleiben an der Oberfläche. Ab und zu tritt ein Aufseher an ein Mikrofon: «Silenzio! Silence! No Photo!», raunt seine Stimme, gelangweilt von diesem Mantra. Aber was will man tun?

Über meinen Audioguide wird mir nichts vermittelt oder erzählt, höchstens genannt und aufgezählt. «40,9 Meter lang, 13,4 Meter breit und 20,7 Meter hoch, den Proportionen des Salomonischen Tempels nachempfunden…» Fast schon instinktiv beginnt man zu fotografieren, als ob man etwas mitnehmen müsste, um es in einer anderen Umgebung vielleicht besser zu verstehen.

Obszönes Meisterwerk

Das ist aber unnötig. Das Internet ist voller Erklärungen und Bilder zu diesen Meisterwerken. So kommt es, dass ich mir in der Kapelle die Kapelle auf meinem iPhone anschaue und Informationen dazu lese. Dort erfahre ich, dass Michelangelos Jüngstes Gericht vielen Zeitgenossen, besonders dem Kardinal Carafa als unmoralisch und obszön erschien. Zu viel nackte Haut. Kurz vor Michelangelos Tod beauftragte man Daniele da Volterra, einen ehemaligen Schüler Michelangelos, die als anstössig empfundenen Blössen zu übermalen. Dieser Auftrag brachte ihm den Spottnamen Braghettone (Hosenmaler) ein. Wie hat sich das angefühlt, den eigenen Meister zu übermalen? «Silenzio! Silence! No Photo!» Ich beschliesse mehr darüber zu lesen. Aber nicht hier. Besser abends im Hotel. Wir gehen.

Lieblos, wuchtig und ungenau

Und wir sind erschöpft. Oder besser erschlagen. Denn darauf zielen die Ausstellungen der Museen und die Kapelle ab: Sie erklären nichts, sie kontextualisieren nicht, erzählen keine Geschichte. Die Wucht ihrer Menge und Grösse überwältigt einen schlicht. Es ist viel zu viel und in einer gewissen Weise lieblos, wuchtig und ungenau. Ich war dort und habe dort nichts verstanden.

Eine Geschichte

Eine halbe Stunde später schlendere ich immer noch erschöpft durch den Petersdom. Wenigstens ist es kühl. Ich versuche gar nicht, all das aufzunehmen. Ich bin voll. Vor einer Kapelle rechts im Seitengang steht eine kleine Gruppe und blickt aufmerksam auf deren Altar. Dort steht Michelangelos Pietà. Der Kardinal von Saint-Denis hat den 24-jährigen Michelangelo beauftragt «innerhalb eines Jahres eine lebensgrosse Statue zu schaffen, die schöner ist als alle bisherigen Kunstwerke aus Marmor.» Er brauchte schliesslich 2 Jahre. Das Resultat ist fantastisch! Das erkennen nicht nur die Zeitgenossen. Michelangelo signiert es als einziges seiner vielen Werke: Der Florentiner Michelangelo Buonarroti hat dies gemacht, meisselt dieser in die Brustscherbe Mariens. Wahrscheinlich heimlich in der Nacht.

Die Pietà ist mit Panzerglas geschützt. 1972 kletterte ein Mann über die Absperrung und hat mit einem schweren Hammer auf die Pieta eingeschlagen. «Jesus ist auferstanden! Ich bin Jesus!», soll er dabei gerufen haben. Er wurde in einer Psychiatrie untergebracht und drei Jahre später des Landes verwiesen. Die Pietà wurde aufwändig restauriert.

Am Abend im Hotel lese ich dann doch nichts über die Sixtinische Kapelle. Auf Facebook schreibt jemand unter einem Religionsbeitrag des SRF, dass sie keine Religionen brauche, mit ihren Geschichten, die ihr sagen, wie man zu leben habe. Ich glaube, ich weiss, was sie meint. Trotzdem lache ich innerlich. Ich weiss, dass ich selbst ohne Geschichten gar nichts verstehe.

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