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 Lesedauer: 5 Minuten

Zorniger Priester

Eine gute Freundin mailte mir: „Lese gerade Handkes Nobelpreisrede. Und bin etwas ratlos. Diese Versessenheit auf die slowenischen Geschichten seiner Kindheit mit diesem (slawischen?) Pathos. So richtig verstehe ich das nicht.“ Sie fand die Rede offenbar entsetzlich, sagte das aus Rücksichtnahme auf mich als Kärntnerin aber nicht direkt. Sie weiss, dass ich gelegentlich Handke zu verteidigen versuche, mich mit dem Landsmann doch auch weiterhin identifiziere und einige seiner Bücher gross finde, vor allem „Wunschloses Unglück“ über seine slowenische Mutter.

Ich gehöre zu den Menschen, die sich eine Welt, in der Peter Handke den Literaturnobelpreis nicht verdient, tatsächlich schwer vorstellen können.

Ich bin mit Handke aufgewachsen. Die Frühwerke waren in Österreich Schullektüre. Während meiner Schulzeit in Klagenfurt und später beim Germanistikstudium in Wien lag der neue Handke in Buchhandlungen stets griffbereit neben der Kasse. In den 1990er-Jahren wurden die Handke-Bücher dicker, die Introspektionen ziselierter. Keine Floskel liess der Autor durchgehen und räumte mit ideologischem Ballast in der deutschen Sprache auf.

Beim 1000 Seiten starken „Mein Jahr in der Niemandsbucht – Ein Märchen aus den neuen Zeiten“ (1994) kapitulierte ich, aber die Ehrfurcht blieb gross, die Bewunderung für den Sprachkritiker, seine Distanznahme vom oberflächlich Dahingesagten, der „Welt der Namen“, wie es in „Langsame Heimkehr“ heisst. Das Gefühl der Gültigkeit des Dichterworts speiste sich wesentlich auch aus seiner Aufarbeitung der in vielen deutschen Familien traumatisch oder peinlich verschwiegenen Faschismusjahre.

Ein Jahr nach der „Niemandsbucht“ veröffentlichte der Schriftsteller wieder ein handlicheres Buch: „Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“. Für viele war das sein Sündenfall. Die rhetorische Klammer der serbischen Reiseschilderung bildet zornige Polemik gegen westliche Medien, der Vorwurf der Parteilichkeit der Berichterstattung. Den späteren Prozess gegen Slobodan Milošević vor dem Haager Tribunal betrachtet der Dichter als eine Art Welttheater zur Legitimierung einer völkerrechtswidrigen NATO-Intervention.

In der von vielen Medien enttäuscht bis hämisch aufgenommenen Nobelpreisrede legt Handke biografische Triebfedern des eigenen Schreibens auf den Tisch. Und die liegen, wie bei vielen Schriftstellern, vielleicht sogar allen, in der Familiengeschichte und Familienlast: als Sohn eines deutschen Wehrmachtssoldaten und einer Kärntner Slowenin mit düsteren Stellen in der Biografie; dem Selbstmord der Mutter; dem Kriegstod der beiden Brüder für Hitler, für den Slawen „Untermenschen“ waren. Als Wehrmachtssoldaten waren sie wohl Täter und Opfer gleichzeitig.

Ich erlebe bei meiner eigenen Familiengeschichte den Spuk unaufgearbeiteter, sorgfältig  beschwiegener Erlebnisse und Ereignisse aus genau jener Zeit. Diese Zeit ist psychosozial weniger vergangen als es scheinen mag. Wir erleben gerade jetzt eine Welle künstlerischer Aufarbeitung von Nachgeborenen, die als Kinder in den 1970er und 1980er-Jahren noch Ausläufer der merkwürdigen Gefühlstaubheit, Kälte, Härte und Stummheit der Post-Nazi-Generation erlebt haben.

Als Schülerin in den 1980er-Jahren in der HBLA-Klagenfurt, im Volksmund „Frauenberufsschule“, bemerkte ich zum ersten Mal den sonderbaren Graben zwischen den Volksgruppen im zweisprachigen Rosental und in Orten wie Bleiburg oder Griffen, wo Handke herkommt. Nach meiner Wahrnehmung herrschte zwischen Schülerinnen aus diesen Gegenden Kalter Krieg. Sloweninnen plauderten in Pausen auf Slowenisch. Über die Lippen ihrer deutschsprachigen Ortsgenossinnen kam nie ein slowenisches Wort, aber sie betonten, Slowenisch zu können. Es hörte sich wie eine Drohung an: „Wagt nicht, über uns zu lästern, wir verstehen jedes Wort.“

Eine merkwürdige und oft gehörte Standardbegründung der Deutschsprachigen lautete, dass sie aus Protest nicht slowenisch sprechen mögen, weil nämlich „slowenische Pfarrer sich weigern, in der Kirche auch deutschsprachige Messen zu lesen“. Ich habe nicht überprüft, ob das wirklich stimmte, weiss aber, dass der Katholizismus auf slowenischer Seite tiefer verankert schien, Kirchen lebendiger waren, Alt und Jung sangesfreudiger. Gewiss hat das auch mit der Minderheitensituation zu tun, die enger zusammenrücken lässt. In der Nazi-Zeit hat sich in slowenischen Kirchen antifaschistischer Widerstand organisiert.

Dass Handke in seiner Nobelpreisrede auf Slowenisch gebetet hat, aus einem alten Marienhymnus, hat mich überrascht.

Der Schriftsteller pickte in seiner Rede einzelne Bitten aus dem Hymnus heraus: „Du Mutter des Schöpfers“, „Du Mutter des Erlösers“, „Du Sitz der Weisheit“, „Du geheimnisvolle Rose“, „Du Turm Davids“, „Du Pforte des Himmels“ und zum Abschluss „Du Morgenstern“ – „Prosi za nas!“. Bis auf das jeweilige Responsorium, „Bitte für uns!“, liess Handke den slowenischen Text unübersetzt. Einen Umstand, den er eigens hervorhob.

Handke lebt seit Langem in der Nähe von Paris. Die slowenische Litanei kam ihm kaum flüssiger über die Zunge als das zum Abschluss seiner Rede im schwedischen Original zitierte Gedicht des Literaturnobelpreisträgers Thomas Tranströmer „Romanische Bögen“. Als Erklärung, weshalb er aus der christlichen Litanei zitierte, führt Handke frühe Kindheitseindrücke in seiner Heimat an. Die „wunderlangen“ zur Mutter Gottes gebeteten „slowenisch-slawischen religiösen Litaneien“ hätten ihm „früheste Schwingungen und Schwungkräfte“ verliehen und „beatmen“ den inzwischen 77-Jährigen weiterhin.

Der Tonfall der Rede war zerbrechlich-zitternd und kanzelhaft-predigend, zornig und verletzlich, arrogant und dünnnervig, schon eine irritierende Mischung. Die Verwendung mehrerer Sprachen in Handkes Rede war nach meiner Empfindung kein peinliches Fremdsprachenstammeln, sondern dichterische Demonstration; nicht Perfektion der Artikulation, aber Anerkennung von Sprachen (nicht Nationen) als Häusern des Seins, Bewahren sprachlicher Eigenart und gleichzeitig Herantasten an Fremdsprachen.

Handke ist nicht nur Autor, sondern auch feinnerviger Übersetzer. Sein Zitieren der Lauretanischen Litanei in seiner Muttersprache liess Übersetzungen in vielen Sprachen mitdenken und -schwingen. Die Lauretanische Litanei ist kein exklusives Gebet, sondern eines, das bis heute in vielen Sprachen und Nationen gebetet und gesungen wird und dessen lateinischer Urtext auf einem griechischen Vorbild fusst: dem Hymnos Akathistos der orthodoxen Kirche.

Der Name des Gebets bezieht sich auf das Haus der Gottesmutter: Loreto. Der Legende nach ist das heilige Haus von Engeln aus Galiläa übers Meer nach Dalmatien und weiter nach Italien getragen worden. Das heisst, es gab einen Über-Setzungsvorgang über konfessionelle und ethnische Grenzen hinweg, der eine Verbindung schuf. Unmittelbar bevor Handke die Litanei betete, zitierte er aus seinem dramatischen Gedicht „Über die Dörfer“ von 1982 die Worte: „Der ewige Friede ist möglich“ und „seid himmelwärts“. Wohlwollend interpretiert, kann man das Gebet in der Nobelpreisrede als Stossgebet für Frieden betrachten.

5 Kommentare zu „Zorniger Priester“

  1. Albrecht Grözinger

    Sehr nachdenkliche Überlegungen, die mir gut gefallen – gerade auch angesichts des aufgeheizten Diskurses um Handkes Nobelpreis.

    1. Vielen Dank für Ihre Rückmeldung, Herr Grözinger, die wir überaus schätzen. Für Sie als Information: Unsere Autorin Johanna Di Blasi startet an diesem Samstag eine neue Reihe mit dem Namen SPIRITUELLE TOPOGRAFIEN.

  2. Beim Lesen des Textes bildete sich mir der Wunsch, etwas zu äußern, was ich dann schon von Albrecht Grözinger gesagt fand. Keine Feuilletonbeitrag des letzten Jahres vermochte mir einen Gewinn zu vermitteln, wie ich ihn hier fand.

  3. Hand-Shake für diesen Hand-Keh-Artikel. Ja, wenn Sprache mehr als Wort-Blööterli-Wasser ist, wird Wasser zu Wein, Sprache zu Sein.

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