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Zornig auf den zweiten Blick

Unendlich traurige Augen in einem angestrengten Kindergesicht. In Großaufnahme vor einer Kraterlandschaft. Noch bevor ich denken kann, trifft mich das Bild ins Herz. Ich weiß nicht, ob das Kind unglücklich ist, weil es in drückender Armut lebt, seine Eltern verunglückt sind oder der Fotograf ihm das Spielzeug weggenommen hat. Aber ich weiß, dass ich helfen soll. Und ich fühle mich schlecht, wenn ich es nicht tue. Es ist das gleiche Gefühl, wie an einem Bettler vorüberzugehen, ohne sich die Mühe zu machen, zum Kleingeld zu greifen.

Natürlich sind derartige Bilder gestellt, inszeniert, kalkuliert, perfekt ausgeleuchtet und mit Hightechkameras aufgenommen. Traurige Kinderaugen sind zudem mächtige Bildformeln. Der Kunsthistoriker Aby Warburg nannte gestische oder mimische Darstellungskonventionen des Gefühlsausdrucks ›Pathosformeln‹. Ihre Wirkung ist schier magisch: Der Anblick von Laokoons Kampf ist quälend, die Darstellung einer leichtfüßigen Muse hebt die Stimmung und ein Halbgott auf bequemem Lager entspannt auch Zeugen der Szene. In Anlehnung dazu bezeichnet der Philosoph Luca Di Blasi Mitgefühl generierende Bilder als Empathieformeln.

Kinderaugen, die anklagen

Die traurigen Augen in einem Kindergesicht sind mich auf der Homepage der Schweizer Konzernverantwortungsinitiative KOVI angesprungen. Ich wollte mich eigentlich nur sachlich informieren. Aber da waren dann diese düsteren dunkelbraunen bohrenden indigenen Kinderaugen. Durch einen simplen Bewegungseffekt wird der traurige Blick auf der KOVI-Homepage fast schon penetrant akzentuiert.

Ich war verblüfft:

Bei einer avancierten Initiative wie KOVI, die mehr als 100 NGOs unterstützen, hatte ich das Klischeebild aus der karitativen Spendenwerbung nicht erwartet.

Seit mindestens zwanzig Jahren gibt es Kritik von zivilgesellschaftlichen, migrantischen und postkolonialen Gruppen an stereotypen Opferdarstellungen in der Spendenwerbung, auch der christlichen. Das ›Elend der Welt‹ wird in Armutspornos ein- und der historische und politische Kontext ausgeblendet. Um potenzielle Spender*innen nicht zu irritieren und Weltbilder nicht durcheinander zu bringen.

Immerhin sind Hungerbäuche vor menschenleerer Savannenkulisse, die jahrzehntelang plakatiert wurden, weitgehend verschwunden. Traurige Kinderaugen aber sind an die Stelle der Bäuche getreten. Sie rufen dieselbe Assoziationskette der ›Anderen‹ als chronisch rückständigen, hilflosen und infantilen Almosenempfänger*innen im Global South auf.

Das Schema von ›White Charity‹ zitieren und brechen

Implizit läuft das Mindset von weißen Weltrettern und westlicher Überlegenheit mit. Dass bei aller Bemühung um rassismusfreie Werbung bei Organisationen wie der »Welthungerhilfe«, »Care« oder »Kindernothilfe« immer noch mit Stereotypen der ›White Charity‹ gearbeitet wird, ist ein Beleg dafür, wie tief die Bilder in Bewusstseinen verankert sind.

Auf den ersten Blick bestätigt die auch von Kirchen (Evangelisch-reformierte Kirche, Bischofskonferenz, Evangelische Allianz) auf breiter Front unterstützte Konzerninitiative tatsächlich das Pathos-Schema, allerdings durchbricht sie dieses sogleich. Die unbestimmt traurigen Kinderaugen auf der Homepage werden augenblicklich mit einer konkreten Aussage überblendet:

»Trinkwasser verseucht. Kind vergiftet. Rohstoffkonzern haftet.«

Die Worte »Rohstoffkonzern haftet« sind mit Signalfarbe hervorgehoben.

Die KOVI-Präsentation verbindet also das unpolitische Motiv der traurigen Augen aus der Charity nicht nur mit konkreter Problembenennung, sondern zusätzlich mit dem Thema der Justiziabilität. Das ist ungewöhnlich – und der springende Punkt. Es geht ganz offensichtlich nicht darum, mit einem Scheck über 50 oder 100 CHF für Notleidende das eigene Gewissen zu erleichtern, sondern es werden politische Forderungen nach struktureller Veränderung erhoben.

Das Lieferkettenparadox: Es gibt Graubereiche, deshalb sei Transparenz nicht möglich

Es geht um Lieferkettentransparenz, einklagbare Rechte und Umwelthaftung. Und man kann auch spenden, allerdings zur Unterstützung der Aktivist*innen. Natürlich behaupten viele Konzerne, das Transparenz auf gar keinen Fall gehe, unzumutbar sei, weil zu kompliziert, ökonomisch nicht machbar, etc. Und Unternehmen verweisen darauf, was sie alles an Charity leisten und welche vorbildlichen Arbeitgeber und Community-Worker sie seien.

Glencore beispielsweise, der Schweizer Rohstoffgigant mit einem Jahresumsatz im dreistelligen Milliardenbereich (Milliarden!), dem seit Jahren Menschenrechtsverletzungen und ökologischer Raubbau vorgeworfen werden, empfiehlt sich auf seiner Internetstartseite fast schon wie eine Kirche als ›Purpose‹-getrieben. Untermalt von sanften Klavierklängen informiert ein Purpose-Film: »Wherever we are, whatever we do, we all work together«. Austausch auf Augenhöhe und ›Nachhaltigkeit‹ liegen der weltweit größten im Rohstoffhandel tätigen Unternehmensgruppe am Herzen. Auch wurde ein Glencore Community Support Fund ins Leben gerufen.

Verantwortungsvolles Handeln statt Ethical Marketing

Wieso ist dann das indigene Kind in Peru immer noch unglücklich? Ihm gehören nämlich die dramatischen Augen auf der KOVI-Startseite. Die Antwort lautet: Weil sein Zuhause, die Stadt Cerro de Pasco, sich in eine Mondlandschaft verwandelt. Riesige Schürfkrater nagen am Siedlungsraum, der Himmel und die Lungen sind staubig-grau und erhöhte Bleiwerte im Trinkwasser lassen bei Kindern der 70 000 Einwohner zählenden Stadt vermehrt Blutarmut, Behinderungen und Lähmungen auftreten. Die riesigen Minen der Gegend werden kontrolliert: von Glencore.

Glencore beschäftigt in seinen Marketingabteilungen Tausende Mitarbeiter*innen, die alle Register des ethischen Marketings ziehen und beständig am Image des ›weltverbessernden‹, ›humanitären‹ Großkonzerns basteln. Schärfer als die Glencore-Selbstdarstellung und die KOVI-Perspektive können sich Bilder kaum widersprechen.

Eine christliche Politikerin zeigt, wie es geht

Selbstverständlich können auch sogenannte freiwillige Selbstverpflichtungen Gutes bewirken. Mit einem Beispiel aus der Kultur lässt sich dies veranschaulichen: Mit den sogenannten »Washingtoner Prinzipien« verpflichteten sich Unterzeichnerstaaten Ende der 1990er-Jahre auf eine rechtlich nicht bindende Übereinkunft, um während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmte Werke der Raubkunst zu identifizieren und »gerechte und faire Lösung« zu finden. Seither sind eine Reihe von Restitutionen erfolgt und die Öffentlichkeit ist für das Thema sensibilisiert worden.

Um aber gegen Graubereiche im Handel wirksam anzugehen, reichen Selbstverpflichtungen nicht aus. Um noch einmal bei der Kultur zu bleiben: Deutschland fungierte so lange als internationale Drehscheibe für Hehlerei mit Kunst, u.a. aus Raubgrabungen im Irak, bis 2016 ein »Kulturgutschutzgesetz« in Kraft trat. Das Gesetz regelt nicht nur die Ausfuhr, sondern auch den Import. Angeschoben wurde es von einer christlichen Politikerin: Monika Grütters wartete einen günstigen Zeitpunkt ab – die politische Schwäche der deutschen Liberalen, der FDP – und brachte das Gesetz gegen großes Zetern und Wehklagen der Händler*innen und ihrer Lobbys durch. Grütters argumentierte damals: »Jedes Hühnerei trägt in der EU einen Herkunftsstempel, wieso soll das bei Kunst nicht gehen.«

Jedes Hühnerei trägt in der EU einen Herkunftsstempel

Mir sind die Kinderaugen aus der Konzernverantwortung – über die am 29.11. in der Schweiz abgestimmt wird – nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Als ich nach einer Weile die Kampagnenseite ein zweites Mal aufrief, zweifelte ich plötzlich an meiner ersten Wahrnehmung. Das Kind kam mir jetzt gar nicht mehr so traurig vor, sondern eher ein bisschen wütend. Der Rotz um die Nase könnte zwar darauf hindeuten, dass es geweint hat. Gleichzeit aber ist da eine entschlossene Haltung. Vielleicht haben wir sogar eine künftige Aktivistin und mutige Kämpferin für Menschenrechte und Umweltschutz vor Augen?

Tatsächlich war mir das Pathos der Entschlossenheit und des Zorns schon beim ersten Betrachten des Kinderporträts aufgefallen. Aber ich habe diese Aspekte zunächst weniger stark gewichtet und die Wahrnehmung sogar zurückgestellt. Das Bild eines zornigen Kindes passte nicht in mein eigenes Wahrnehmungsschema von Not, Krisen und Armut. Mit anderen Worten: Ich habe die Traurigkeit und deprimierende Hilflosigkeit selbst in die Kinderaugen hineingelegt.

Ich bin meinem eigenen schlechten Gewissen als relativ wohlstandsverwöhnte Europäerin unbewusst erlegen. Und dieses erzeugte in mir eine unterschwellige Abwehrhaltung gegen die Anklage ›trauriger Augen‹. Von einer potenziellen Aktivistin aber geht eine ermächtigende Kraft aus, auch im eigenen Umfeld nicht als schicksalhaft hinzunehmen, was nach Veränderung schreit.

4 Kommentare zu „Zornig auf den zweiten Blick“

  1. Eine subtile und für mich wichtige Analyse dieses Bild. Danke! Dazu aber eine konkrete Erfahrung: Ich engagiere mich im Spiezer KOVI-Lokalkomitee und beim Aktionstag am Samstag 21.11.20 hat mir dieses Bild, eben hervorragend phototechnisch konstruiert, mehrere heftige Kritik-Duschen eingebracht. Ich wurde regelrecht durchnässt und das bei ziemlich kaltem Wetter: „Eine reine Konstruktion, fake, entspricht doch nicht den Tatsachen, Instrumentalisierung eines Kindes: das ist doch gegen die Würde des Kindes …“ Das Klima der Diskussion ist giftig geworden, doch diese Kritik an diesem Bild, die ich erfahren habe, müsste in Zukunft sorgfältig bedacht werden.

  2. Danke für diese konkrete Erfahrung! Ich finde das KOVI-Bild durch den Shift von Mitleid zu Zorn ausgesprochen gelungen. Dennoch sind die Einwände durchaus nachvollziehbar. Um in Schrift und Bild in Kampagnen diskriminierungsfrei zu kommunizieren, raten Expert*innen (z.B. Tahir Della von der »Initiative Schwarze Menschen in Deutschland« oder der Regisseur von »White Charity« Timo Kiesel), Menschen nicht zu anonymisieren und nicht ›für Andere zu sprechen‹. Kinder müssten, wenn man auf ihre Bilder künftig nicht verzichten will, zumindest einen Namen bekommen. Hilfreich für weitere Überlegungen ist vielleicht https://www.whitecharity.de./de/home/

    1. Sie haben schon gesehen, dass das Bild völlig im Kontext des Trinkwasser „Unglücks“ in der peruanischen Stadt Cerro de Pasco steht und dies sogar auf dem Bild und unter dem Bild festgehalten wurde? Das es sich hier um ein peruanisches Kind handelt ist ja wohl mehr als naheliegend oder? Wenn es sich um explizite Beispiele handelt, wie dies die Kovi macht, so ist Ihr Vergleich nicht wirklich sachlich fair. Wie möchten Sie den solche Schicksale attribuieren und visualisieren? Es ist ja gerade der Punkt meines Erachtens, dass es moralisch verwerflich ist keine Konsequenzen tragen zu wollen. Hier geht es nicht um Charity sondern um einen Schritt in eine halbwegs faire Teilhabe der globalisierten Märkte und ihrer rechtlichen Instrumente so wie das unsereins schon lange tun kann!

  3. Obwohl Mitglied eines Lokalkomitees für die Konzernverantwortungsinitiative hat mich dieses Plakat gestört. Doch dann hat mir eine Kollegin erzählt, dass das Sujet des Mädchens gerade Kinder angesprochen hätte, die dann ihre Eltern gefragt haben, um was es gehe. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher, was ich davon halten soll.

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