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 Lesedauer: 5 Minuten

„Gott“ – selbstbestimmtes Sterben

Herr Gärtner will anständig sterben

Ferdinand von Schirachs Bühnenstück, das die ARD als interaktives TV-Event inszeniert, regt die Debatte über Sterbehilfe an: Richard Gärtner, ein pensionierter aber kerngesunder Architekt, der seine Frau beim Sterben begleitet hatte, ist seines Lebens müde. Das Sterben seiner Frau hatte er als grausam und fremdbestimmt erlebt. Nachdem das Bundesinstitut für Arzneimittel und seine Hausärztin ihm die Dosis Natrium-Pentobarbital verweigert haben, tritt Herr Gärtner vor den Deutschen Ethikrat. Die TV-Zuschauer*innen werden nach der Anhörung verschiedener Sachverständiger*innen und den Plädoyers – obwohl es sich ja nicht um einen Gerichtsprozess handelt – der opponierenden Parteien dazu aufgefordert, telefonisch abzustimmen.

Das vom SRF ebenfalls übertragene und durch eine Club-Spezial-Sendung zum Themenabend erweiterte Stück dürfte für deutsche Zuschauer*innen noch brisanter sein, als für Schweizer*innen: Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 für ein Recht auf „selbstbestimmtes Sterben“ entschieden.

Wem gehört das Leben?

Als erste Expertin hören wir eine juristische Sachverständige. Diese interpretiert das Grundgesetz so, dass sie darin das Recht der Bürger auf einen selbstbestimmten Tod verankert sieht. Der medizinische Sachverständige dagegen sieht die aktive Sterbehilfe als unvereinbar mit dem hippokratischen Eid an und bezweifelt, dass gesunde Menschen einen kontinuierlichen Sterbewunsch hegen können. Auf ihn folgt der theologische Sachverständige, ein katholischer Bischof. Er begründet seine ablehnende Haltung mit Bezug auf Augustinus und Thomas von Aquin. Im Kern versteht er den Selbsttötungswunsch als widernatürlich und als Ablehnung eines Gottesgeschenks, was dem Menschen nicht zustehe. Im Schlussplädoyer von Herrn Gärtners Anwalt werden die divergierenden Positionen noch einmal überdeutlich: Die Frage sei, wem das Leben eigentlich gehöre. Gott? Der Gesellschaft? Oder jedem Einzelnen?

Er kann das so selbstbewusst fragen, weil er weiss, dass nicht Ethiker*innen über diese Frage diskutieren werden, sondern das TV-Publikum darüber abstimmen wird. Und in westlichen Gesellschaften gewinnt immer die individualistische Position. Niemand darf zum Suizid gedrängt werden. Aber jeder darf über sein Ende selbst entscheiden. Die darauf folgende Abstimmung gibt ihm Recht. Gut 70% der deutschen und knapp 70% der schweizer Zuschauer*innen folgen seiner Argumentation.

Ethik ist (k)eine Abstimmungssache

Überraschend ist das kaum. Höchstens, dass die Deutschen, bei denen das Euthanasie-Argument stärker wirkt als bei uns Schweizern, Herrn Gärtners Wunsch noch zahlreicher entsprechen wollten, überrascht auf den ersten Blick. Es könnte aber auch eine politische Willensbekundung sein, das „selbstbestimmte Sterben“ nicht nur verfassungsmässig, sondern praktisch, umzusetzen. Die Zeit hat getitelt, Ethik sei keine Abstimmungssache. Aber das stimmt wahrscheinlich nicht.

Wenn man nämlich kein essentialistisches Moralverständnis vertritt, geht das sehr wohl. Ein essentialistisches Moralverständnis würde „moralische Tatsachen“ voraussetzen und die moralische Entwicklung einer Gesellschaft quasi entlang der Entdeckungen solcher Tatsachen erklären. Markus Gabriel hat das jüngst versucht, dadurch „Moralischen Fortschritt in dunklen Zeiten“ zu denken. Wer aber Moral weniger als Archäologie mit normativer Absicht, sondern mehr als Systematik begreift, die uns hilft uns untereinander zu verständigen, versteht, dass solche Abstimmungen wichtig sind. Sie sagen uns zwar nicht, was wahr ist oder wer wir sein sollen, aber dafür, wer wir in Wirklichkeit sind.

Moralische Ressourcen

Und von dieser Perspektive her hat der reformierte Theologe und Ethiker Frank Mathwig in der Club-Spezial-Sendung die entscheidende Frage aufgeworfen. Nachdem die klassischen normativen Konzepte nicht mehr überzeugen, unser Verhalten nicht mehr zu regulieren und zu motivieren vermögen: Woher haben wir – als einzelne Menschen und als Gesellschaft – die moralischen Ressourcen, mittels derer wir uns orientieren?

Der Individualismus würde dies jedem gerne selbst überlassen. Nur: Es ist ja gar nicht jeder nur selbst von seinen Entscheidungen abhängig. Deshalb müssen wir unser Handeln und die dazu gehörigen Motive miteinander besprechen und abstimmen. Nicht nur beim Sterben, sondern ein Leben lang. Das Recht mag einen Teil des Zusammenlebens regeln. Es kann uns Freiheiten einräumen. Aber es sagt uns nichts darüber, wie man „anständig“ stirbt, was Freiheit meint und was wir uns gegenseitig über das Obligationenrecht hinaus schuldig sind. Es zwingt Eltern nicht, ihre Kinder über ihren „Exit“ im Voraus zu informieren. Es kann uns nicht sagen, was unser eigenes Leben lebenswert hält. Am deutlichsten hat man dies gespürt, als der „theologische Sachverständige“ Gärtners Anwalt so geantwortet hat, als wäre die Sache mit Gott eine juristische Frage höherer Ordnung. Aber auch dort, wo die juristische Sachverständige feststellte, dass es „keine Rechtspflicht, zu leben“ gäbe.

Ressourcen-Puzzle

Klar ist: Es führt kein guter Weg zurück zur Religion. Aus mehreren Gründen: Erstens – das hat Gärtners Anwalt so süffisant vorgeführt – hat die für Sittlichkeitsfragen zuständige römisch-katholische Kirche ihren Kredit als Moralhüterin verspielt. Zweitens ist unsere Gesellschaft zu plural, um sich auf ein (!) religiöses Mehrheitssystem zu beziehen. Drittens passen religiöse, alles umfassende Strukturen nicht zur individualistischen, selbstbestimmten Lebensform unserer Gesellschaft.

Es wäre nun aber unfair, die individuellen Entscheidungen vorschnell als Individualismus oder Wertrelativismus abzutun. Selbstverantwortung in Moralfragen ist kein leichtfüssiges Geschäft. Die Menschen werden sich durch Fragmente von Weltbildern mit beschränkter Geltung orientieren müssen. Da ein wenig Kant, dort eine zu Herzen gehende Erfahrung, hier etwas Religion. Aber zusammengenommen ergibt das für einen Menschen einen Kompass, mit dem er sich nach bestem Wissen und Gewissen orientiert. Die Nadeln orientieren sich an unterschiedlichen Polen. Jeder ist ein bisschen anders eingestellt. Es gibt Abweichungen. Aber das ist nicht schlimm. Jedenfalls solange wir über Ethik sprechen und nicht über Ethik abstimmen.

6 Kommentare zu „„Gott“ – selbstbestimmtes Sterben“

  1. Danke für den einmal mehr wertvollen Beitrag. Ich stimme Ihnen zu und stelle die Frage in den Raum, ob der Entscheid auch so deutlich ausgefallen wäre, wenn nicht der alte Mann, sondern die vom Bischof erwähnte 31 jährige Frau die Rolle der des Lebens überdrüssigen gespielt hätte. Wären uns dann die Argumente der Juristen nicht plötzlich zynisch erschienen. Das Stück ‚Gott‘ ist eigentlich schwammig und nicht so konsequent, wie Terror es war. Die anschliessende Club Diskussion zeigte auf, dass man sich mit der schweizerischen Position des begleiteten Suizids angefreundet hat. Die unheilbare Erkrankung lässt sich ohne grosse moralische Sprünge durch die Definition: Alt und das Leben erlebt, ersetzen. Nur ist dies nicht richtig, der Wunsch kann ja früher auftreten und als Idee gefestigt werden. Wenn wir dies bejahen, sollen wir auch die Ärzte aussenvor lassen. Diese klären ab, ob der Mensch urteilsfähig und weder eine somatische, noch eine psychiatrische Erkrankung vorliegt. Anschliessend soll der Mensch aber bitte nicht mehr einen Arzt benötigen, sondern beispielsweise an ein Gericht gelangen und seinen Fall vortragen, um dann die gewünschte Dosis Natrium Pentobaribtal zu erhalten.

    1. Herzlichen Dank! In der Tat hat auch bei mir die Club-Diskussion die Frage geweckt, wer eigentlich Expertise hat, um solche Fälle zu beurteilen und ob das wirklich die Ärzte sein sollen. Ich schreibe das als Befürworter der Exit-Praxis und habe die Zusammenarbeit mit Exit in meiner Familie sehr gut erlebt. Aber: Gott sei Dank hat der Augenarzt ausgeholfen. Das müsste fairer und transparenter geregelt werden.

  2. Daniela Ritzenthaler

    Herzlichen Dank, Stephan für den differenzierten Blogbeitrag.
    Ferdinand von Schirach schafft es in seinen Theaterstücken, die verfilmt werden, für unsere Zeit bedeutende ethische und rechtliche Fragen in emotional packende Fernsehfilme zu verarbeiten. Die letzte ähnlich gelagerte „Verhandlung“ mit Film & Abstimmung unter dem Titel „Terror“ verwende ich im Ethikunterricht, weil er die ethischen Begründungsformen gut darstellt.
    Bei „Gott“ und bei „Terror“ beeindrucken mich seine präzise juristische Sprache und wie es ihm gelingt, in kurzer Zeit viel Aspekte in die Diskussion einzubringen. Mich persönlich stört die Vermischung zwischen Ethik & Recht und die Zuspitzung auf die Abstimmung am Schluss, die dann das weitere ethische Ringen um diese komplexen Themen scheinbar obsolet macht, weil das Publikum ja abgestimmt hat und die Mehrheit Recht hat.
    Du schreibst zurecht, dass Frank Mathwigs Frage nach der moralischen Basis der Gesellschaft zentral ist. Gerade jetzt hätten wir die Chance, in der Pandemiezeit unsere moralische Basis zu diskutieren & die gesellschaftliche und ethische Debatte und die politischen Entscheidungen danach auszurichten. Das wäre ein echter Gewinn & ich könnte mir vorstellen, dass dies auch dem Zusammenhalt der Menschen gut tun würde.

    1. Herzlichen Dank, liebe Daniela! Das wäre natürlich das Beste: Durch die ethische Debatte wird Gemeinschaft gestärkt. Als Habermas-Fan hoffe ich das natürlich in jeder Hinsicht. Etwas Sorge bereitet mir dabei, dass nicht nur in Schirachs Stück, sondern in der Gesellschaft insgesamt, das Recht auf Kosten der Ethik immer stärker wächst… Herzlich!

  3. Beim Gebot du sollst nicht töten geht es m. E. um Tötung aus niedrigen Motiven. Also aus Hass, Neid, Eifersucht. Bei Sterbe-Hilfe geht es hingegen um Hilfe für jenen Menschen, dem beispielsweise ein bösartiger Tumor diagnostiziert wurde und seine womöglich vorhergesagte leidvolle Daseinserwartung eh nur wenige Monate, 1-2 Jahre dauern würde. Ihm dann eine von ihm gewünschte Verkürzung seiner Leidenszeit zu verweigern wäre m.E lieblos, somit gottlos, denn Gott ist Liebe.

  4. Die Antwort auf die Frage „Wem gehört das Leben ?“ kam nicht. Sie steckt für den Leser in dem 4-Zeiler, der zwischen Leihgabe und Geschenk unterscheidet.

    LEBEN – denkt der Mensch beschränkt,
    das Leben sei ihm ja geschenkt.
    Dieser Irrtum wird verziehen,
    wenn wir einseh’n: NUR GELIEHEN.

    Die Leihgabe ist und bleibt im Besitz des Verleihers. Soweit die Leihgabe „ohne Vergütung“ genutzt wird, ist die Lebenszeit geschenkt. Die Nutzungsgebühr ist in dem Film nicht Gegenstand der Diskussion gewesen. Der freie Wille des Nutzers sehr wohl. Ich denke, die Leihgabe nicht weiter nutzen zu wollen, ist einvernehmlich mit dem Verleiher.

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