Früher wollte ich glauben, dass ich extrovertiert bin. Denn «extrovertiert» klingt nach Persönlichkeit, «introvertiert» nach Diagnose. Wenn ich jeweils über soziale Gepflogenheiten stolperte und mich unbeholfen aus dem Gespräch entfernte, stellte ich mir vor, wie die anderen entschuldigend mit den Schultern zuckten:
«Sie ist halt etwas introvertiert. Ist aber nicht ansteckend.»
Ich habe mir im Laufe der Zeit viele extrovertierte Verhaltensweisen antrainiert. Smalltalk kann ich inzwischen. Nicht gut, aber solide genug, dass keiner merkt, wie ich innerlich schon wieder die Flucht plane. Für einen Beruf wie Pfarrerin ist diese Fähigkeit von Vorteil.
Soziale Batterien
Ich glaube nicht, dass man als introvertierte Person häufiger einsam ist. Aber man ist anders einsam. Und ein Beruf mit viel Menschenkontakt lindert das nicht – im Gegenteil. Nach einem Arbeitstag sind meine sozialen Batterien meist so aufgebraucht, dass es mir undenkbar erscheint, nochmals das Haus zu verlassen. Dabei würde mir ein vertrautes Gespräch guttun.
Introvertiert heisst ja nicht, dass ich immer allein sein möchte.
Ich bin einfach schneller sozial überfordert. Und wenn ich mit den falschen Menschen spreche, wird meine Einsamkeit umso grösser: Ich erzähle von tiefen Ängsten, aber höre darauf nur leere Floskeln; ich erzähle von meinen Träumen, doch werde angeschaut als hätte ich gerade verkündet, ich wolle professionelle Wolkenfängerin werden.
Wenn ich mich nicht verstanden fühle, wächst die Einsamkeit wie das Unkraut in unserem WG-Garten.
Sich selbst überlisten
Ja, ich wohne in einer WG. Als introvertierte Person. Was wie ein Widerspruch erscheint, ist oft genau die Antwort auf meine Einsamkeit: Nach dem Konfirmationslager komme ich nach Hause und sehne mich nach einer Tür, die zu bleibt, einem Teller Pasta ohne Smalltalk, und nach ein paar melancholischen Popsongs, um zur Abwechslung wiedermal meine eigenen Gefühle zu spüren.
Der vertraute Klang des WG-Lebens empfängt mich bereits, wenn ich zur Haustür eintrete.
Einer kocht. Zwei erörtern den Zusammenhang zwischen toxischer Männlichkeit und Zimmerpflanzen. Die Vierte beteiligt sich mit lauten Zwischenrufen an der Diskussion, während sie eigentlich versucht, ihre Masterarbeit fertigzukriegen. Mein Sozialkater beginnt zu schnurren – unter vertrauten Gesichtern kann er sich entspannen. Aus dem Haus schaffe ich es zwar nicht mehr, aber mein Akku reicht, um in der gewohnten Küchentischrunde Pläne zur Welteroberung zu schmieden oder einfach zu erzählen, wie mein Tag so war.
Unkraut und Unverständnis
Nicht nur die geselligen Tischrunden helfen, um mich weniger allein zu fühlen, sondern auch die alltäglichen Konflikte. Neben dem Unkraut müssen wir in der WG auch immer wieder Unverständnis bekämpfen: Ich verstehe nicht, warum manche das Bürsteli statt den Schwamm benutzen, warum man so lange lüftet, bis die Wohnung eiskalt ist, oder warum wir an jeder WG-Sitzung von Neuen über die Ameisenbekämpfung verhandeln müssen.
Aber immerhin: Wir wissen, dass wir einander nicht immer verstehen.
Und darum versuchen wir es immer wieder. Tag für Tag. WG-Sitzung für WG-Sitzung. Deshalb sind mittlerweile meine Mitbewohner:innen die Menschen, von denen ich mich wohl am meisten verstanden fühle. Und nichts lässt Einsamkeit so schnell verschwinden, wie der Blick eines Menschen, der mich wirklich gut kennt.
Mittlerweile habe ich gelernt, meine introvertierte Seite zu lieben.
Mein spirituelles Selbst
Denn ich verdanke ihr unglaublich viel. Ich könnte stundenlang in meinen eigenen Gedanken versinken: In der Aussenwelt gibt es kaum noch Unentdecktes. In meinem inneren Universum stosse ich hingegen ständig auf Gefühlswurzeln oder Bedeutungsströme, die noch nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hat.
Ich bin gesprächig – aber am liebsten rede ich, wenn ich tatsächlich etwas zu sagen habe.
Vielleicht bin ich nicht gemacht für Networking-Events mit Namensschildern und Stehtischen. Aber ich bin gut im Nächte durchreden, wenn es wirklich zählt.
Meine introvertierte Seite hat mir auch neue Türen zu meiner Spiritualität geöffnet.
Klar begegnet mir das Göttliche auch in Gesprächen mit anderen Menschen. Am meisten fühle ich mich aber dann mit Gott verbunden, wenn ich allein am Fenstersims sitze und die Welt einen Moment schweigt. Wenn sich die Gefühlswogen glätten und ich auf den Grund meines Innern blicken kann. Wenn sich Gott in der menschenlosen Stille finden lässt, wird diese wohl doch nicht so schlimm sein. Ich wollte früher immer glauben, dass ich extrovertiert bin. Heute bin ich introvertiert und das ist ok. so.
Thematisch verwandter RefLab-Beitrag von Johanna Di Blasi: «War Jesus introvertiert? Die Kirche ist in weiten Teilen eine extravertierte Welt. Allmählich aber werden Bedürfnisse stiller Leute erkannt. Und Introvert-friendly Churches geschaffen.»
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