Wir sind uns auf der Treppe begegnet. Du kamst beschwingt aus dem Wochenende, redetest heiter und laut. Unserer Blicke streiften sich nur kurz, das gegenseitige Wohlwollen aber legte sich für Momente wie eine weiche Wolke um uns.
Du kamst zum Tee. Nach einer Weile versiegte unser Gespräch. Ich suchte in deinen Augen nach einem Anker, aber da war keiner. Nur stecknadelkleine Pupillen, umringt von Wasserblau.
Wir trafen uns, wechselten Worte, aber verbargen uns hinter feinen Schleiern. Es war nicht der Tag, um sich einander zu öffnen. Wir brauchten Privatheit, Schonung.
Du blickst mich fast flehentlich an, wie ein kleiner Junge. Vielleicht hast du ein schlechtes Gewissen?
Du umarmst mich zum Abschied und ich spüre, wie weit entfernt du schon bist.
Deine Augen sind wie Samt, über den man mit den Fingern streichen möchte. Wärme und Stille liegen in deinem Blick. Bist du das? Ich habe das Gefühl, dein Blick übersteigt dich.
Immer anders, immer neu
… alle Begegnungen sind anders. Manchmal entsteht Nähe, manchmal bleibt Fremdheit.
Wirkliche Begegnung braucht Offenheit, Achtsamkeit und Mut. In der wirklichen Begegnung werde ich eine andere. In der Existenzialanalyse ist davon die Rede, dass in der personalen Begegnung das Personale am Gegenüber aktualisiert werden kann.
Dieser Gedanke bildet den Kern der Dialogphilosophie von Martin Buber (1878-1965). Vor genau hundert Jahren, 1923, ist die wichtigste Schrift des jüdischen Religionsphilosophen und Bibelübersetzers erschienen: «Ich und Du».
Wenn wir uns umblicken, merken wir, dass Begegnung und Dialog nicht einfacher geworden sind. Weder in der privaten, Smartphone-fixierten Welt noch in der politischen Sphäre. Bei Letzterer könnte man sogar den Eindruck bekommen, Zuspitzungen der 1920er-Jahre wiederholten sich, nur dass sich in der Zwischenzeit noch sehr viel mehr Trennendes aufgehäuft hat.
Ich werde durch das Du zum Ich
Der Mensch wird nach Bubers Anthropologie erst am Du zum Ich. Das heisst, dass das Du, dass der Andere, wesentlich auf mich einwirkt, mich erst eigentlich zur Person macht. Und auch umgekehrt.
Ich werde zu dem, der ich bin, am und in der Beziehung zum Anderen.
Die zwischenmenschliche Beziehung dachte der Religionsphilosoph als Abbild der Beziehung des Menschen zu Gott und der Welt. In der Politik schien dem Philosophen ein Jesaja-Wort leitend (Jes 1,27):
«Zion wird durch Recht erlöst werden, und wer dorthin umkehrt, durch Gerechtigkeit.»
«Massloses Gefühl von Verlust und Entbehrung»
Auch das Verfehlen und Scheitern der Begegnung ist Gegenstand von Bubers Dialogphilosophie. Er hat dafür ein eigenes Wort geprägt: «Vergegnung».
Als Urerfahrung der «Vergegnung» beschrieb Martin Buber ein tiefes Kindheitstrauma: den Weggang der Mutter, als er drei Jahre alt war. Die Mutter verliess die Familie, folgte ihrem Liebhaber, einem russischen Offizier, und liess offenbar nie wieder von sich hören.
Das Kind begreift, dass die Mutter nicht wiederkommen wird und empfindet ein «massloses Gefühl von Verlust und Entbehrung».
Sicherheit, Vertrauen und Geborgenheit brechen durch den unwiderruflichen Fortgang der Mutter für das kleine Kind zusammen.
Martin Buber findet bei seinen Grosseltern in Lemberg, in der heutigen Ukraine, ein neues Zuhause, aber die traumatische Wunde bleibt offen. Erst drei Jahrzehnte später gibt es ein Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn. Buber hat inzwischen selbst eine Familie gegründet. Es kommt aber zu keiner Begegnung, nur zu einer «Vergegnung», wie Buber festhält; trotz überraschend «schöner Augen» der Mutter, die ihm auffallen.
Das Verfehlen wirklicher Begegnung
Für uns Heutige erschwert der oftmals expressionistisch-blumige Tonfall der Buber-Schriften die Begegnung mit diesem wichtigen Denker des 20. Jahrhunderts. Die Auseinandersetzung aber lohnt.
Von Buber gingen wertvolle psychotherapeutische, pädagogische, soziale und politische Impulse aus.
Seine Dialogphilosophie liess den nach Israel Emigrierten auch intensiv für den Dialog mit den Arabern werben. Buber gehörte 1926 zu den Mitbegründern des allerdings kaum einflussreich gewordenen Friedensbundes Brit Schalom.
Aktuelle Edition: Hier geht es zur Gesamtausgabe der Schriften von Martin Buber.
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2 Gedanken zu „Warum sind wir uns vergegnet? Vor 100 Jahren erschien Bubers «Ich und Du»“
Wie Du, liebe Johanna, die unterschiedlichen Begegnungen am Anfang in Worte kleidest, das löst bei mir ein echtes Kopfkino aus. Danke für diese zeitgemässe Erinnerung an Buber, an die Einseitigkeiten des Autarkie-Ideals, an das Andere, das Du, dessen ich bedürftig bin und das ich für andere sein darf.
Ich würde dieses Ich und Du so gerne nicht aus einem Defizit, einem Mangel heraus verstehen und leben, sondern aus dem Überschuss an Sein, aus der Fülle und Positivität des Lebendigen. Denn es ist eines der grossen Geheimnisse für mich, dass sich das göttliche Leben ganz ähnlich ereignen könnte: Im Geist machen die “Personen” der Gottheit einander zu dem, was sie jeweils für sich sind. Selbststand der Person nicht in Konkurrenz zueinander, sondern in Liebe voneinander her. Und wenn ich mich daran stossen würde und würde etwa die Instanz, die wir als Vater/Mutter bezeichnen fragen: Warum bist Du nicht ein Ich ohne das ewige Du des Kindes? Du bist doch göttlich und brauchst nichts anderes als Dich selbst?
Dann ahne ich eine liebevolle Antwort: Komm! Wag es und erlebe die grössere Fülle, die dann entsteht, wenn nicht jeder nur auf sich und das seine schaut.
Danke lieber Andy für deinen herzlichen Kommentar und fürs Weiterentfalten bzw. Dreifalten und theologische einordnen. Gott personal zu denken ist wirklich anspruchsvoll und schien mir lange Zeit nicht besonders einleuchtend. Aber anrufen kann er ja nur persönlich, sonst ist es keine Anrufung! Trotzdem bin ich hin- und hergerissen zwischen „Gott“ sagen und dem unpersönlichen „Göttlichen“ (wie eine Art freundlicher Grund von allem). Vielleicht etwas kleingläubig an der Stelle …