Dein digitales Lagerfeuer
Dein digitales Lagerfeuer
 Lesedauer: 9 Minuten

Verlorene Zeit und flüchtige Freiheitsmomente

Das Palestine Arts Film Festival läuft vom 11.-16. September in Zürich.

Wie würden Sie den Geist und das tägliche Leben der jungen Menschen im heutigen Palästina beschreiben, zu einer Zeit, in der der Traum von einer Zwei-Staaten-Lösung begraben wird und eine Offensive auf Gaza-Stadt läuft?

Wie kann jemand davon träumen, mit einem Besatzer zu leben? Junge Menschen in Palästina leben in einem Zustand der Enttäuschung. Die Realität ist für alle sichtbar: der Genozid*, die Mauer, die Kontrolle. Das tägliche Leben wird von dieser Spannung geprägt: Wir wachsen schnell auf, tragen Lasten, die viel zu schwer für unser Alter sind, und navigieren durch eine Mischung aus Frustration, Humor und kleinen Momenten des Entkommens. (*Zum Begriff siehe Anmerkung am Schluss dieses Beitrags.)

Inwiefern spiegeln Ihre Filme die aktuelle Realität und die Herausforderungen wider, denen die palästinensische Jugend gegenübersteht?

Ich zeige Politik nicht durch Klischees. Stattdessen zeige ich, wie Politik das tägliche Leben prägt: Für einige Kinder, die zu früh arbeiten müssen, die Mauer der Geschlechtertrennung, das ständige Gefühl der Kontrolle. Diese Details sagen mehr als jede Rede.

Worum geht es in Ihrem Kurzfilm «10 Minutes Younger» (2024), den Sie nach Zürich mitbringen?

«10 Minutes Younger» ist ein Kurzfilm über die Kindheit in Palästina. Wie kleine Gesten, Spiele und Träume von der Gesellschaft und Politik geprägt werden. Es geht um verlorene Zeit, Freiheit in winzigen Momenten und die Spannung zwischen Unschuld und Kontrolle. Durch akustische und visuelle Symbole wie Schuhe, eine Feder und die Präsidentschaftsrede wird das Gewicht der Realität spürbar, während die Kinder ihre eigenen Welten navigieren.

Welche Rolle spielen Erinnerung und Zeit in Ihrer Filmarbeit?

In Palästina ist Zeit nicht linear, sie ist zerschnitten, unterbrochen, kontrolliert. Erinnerung ist nicht einfach die Vergangenheit, sie wird ein Teil davon, wie wir die Gegenwart leben. Der Titel selbst spricht von verlorener Zeit und der Traurigkeit über das, was «hätte sein können».

Können Sie etwas zur Situation der Christ:innen sagen, wie Sie sie wahrnehmen, und zur Situation anderer religiöser Gruppen?

Christen sind ein sehr wichtiger Teil des palästinensischen Gefüges. Die wahren Spaltungen hier betreffen nicht die Religion, sondern die Politik. Der Alltag zeigt, dass das Zusammenleben die Norm ist, und was die Norm bedroht, ist die politische Situation.

Spielt Spiritualität eine Rolle in Ihrem Leben und in Ihrer Filmarbeit?

Für mich ist Spiritualität nicht Religion. Sie ist der Moment, in dem ein Bild, ein Ton oder eine Szene grösser erscheint als die Realität selbst. In diesem Moment wird das Kino zu einer Form der inneren Freiheit.

Wie nutzen Sie Film als Medium, um soziale oder politische Themen anzusprechen?

Indem ich einfach das Leben selbst zeige. Ein Radio im Hintergrund mit der Präsidentschaftsrede und eine langweilige Kindheit sagen mehr als jede direkte Botschaft. Politik ist hier überall, aber ich entscheide mich, sie in ihrer rohen, indirekten Form zu zeigen.

Wer sind Ihre Vorbilder?

Ich glaube nicht wirklich an Vorbilder im traditionellen Sinn. Ich lasse mich mehr von Widersprüchen inspirieren. Slavoj Žižek zum Beispiel, weil er zeigt, wie Wahrheit durch Paradoxien oder sogar Witze erscheinen kann. Im Kino fühle ich mich zu Filmemachern wie Godard und Elia Suleiman hingezogen, die die Grenze zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, zwischen Realität und Absurdität verwischen. Sie erinnern mich daran, dass Film nicht dazu dient, Antworten zu liefern, sondern die richtigen unangenehmen Fragen zu stellen.

Gibt es besondere Momente oder Szenen in «10 Minutes Younger», die für Sie persönlich besonders bedeutsam sind?

Ein Moment, der mir sehr nahegeht, ist, als Julie nach dem Tagtraum die Feder an Waleeds Ohr sieht und nicht versteht, wie sie dorthin gekommen ist. Dieser kleine mysteriöse Moment fängt die Idee ein, wie die Vorstellungskraft einen subtilen Abdruck auf der Realität hinterlassen kann.

Welche Botschaften möchten Sie den Zuschauer:innen durch Ihre Filme vermitteln?

Meine Filme handeln von Gefühlen und Erfahrungen. Ich möchte, dass das Publikum Erinnerung, Verwirrung, Stille und kleine Momente von Fake-Freiheit spürt.

Sie arbeiten auch an einem Dokumentarfilm mit dem Titel «Uncivilized Roots». Worum geht es dabei?

«Uncivilized Roots» ist ein experimenteller Dokumentarfilm, der nicht über Grenzen auf Landkarten handelt, sondern über die unsichtbaren Grenzen, die in unseren Köpfen eingegraben sind. Exil wird als ein Rhythmus erlebt, in dem Erinnerungen an die Heimat, Stimmen und vertraute Gesichter mit der Stille und den kalten Strassen Europas kollidieren. Ziellose Gespräche, wiederkehrende Bilder und ruhelose Sprünge von Ereignissen – ähnlich, aber doch unterschiedlich – offenbaren die Schwierigkeit des Zugehörens und zeigen, was es bedeutet, Palästinenser zu sein in einer Welt, die sich nie wie ein Zuhause anfühlt.

Was ist für Sie die wichtigste ungehörte Geschichte?

Die Zukunft der Palästinenser.

E-Mail-Interview mit der palästinensischen Filmemacherin Nisreen Yaseen, die in der Westbank lebt und arbeitet. 

English Version:

How would you describe the spirit and everyday life of young people in today’s Palestine, at a time when the dream of a two-state solution is being buried and an offensive on Gaza City is ongoing?

How can someone dream of living with his occupier? Young people in Palestine live in a state of disappointment. The reality is visible to everyone: the genocide, the wall, the control. Daily life is shaped by this tension: we grow up quickly, carry burdens too heavy for our age, and navigate a mix of frustration, humor, and small moments of escape.

In what ways do your films reflect the current reality and the challenges faced by Palestinian youth?

I don’t show politics through clichés. Instead, I show how politics shapes daily life: for some children who must work too young and the gender wall that separates boys and girls, the constant feeling of control. These details say more than any speech.

What is your short film “10 Minutes Younger” (2024), with which you are coming to Zurich, about?

“10 Minutes Younger” is a short film about childhood in Palestine. How small gestures, games, and dreams are shaped by society and politics. It’s about lost time, freedom in tiny moments, and the tension between innocence and control. Using audio and visual symbols like shoes, a feather and the presidential speech echo the weight of reality while the children navigate their own worlds.

What role do memory and time play in your filmmaking?

In Palestine, time is not linear, it is cut, interrupted, controlled.
Memory is not simply the past, it becomes part of how we live the present. The title itself speaks about lost time and the sadness of “what could have been.”

Can you please say something about the situation of Christians, how you perceive it, and other religious groups?

Christians are a very important part of the Palestinian fabric. The real divisions here are not about religion. They are about politics. Daily life shows you that coexistence is the normal; and what threatens the normal is the political  situation.

Does spirituality play a role in your life and filmmaking?

For me, spirituality is not religion. It is the moment when an image, a sound, or a scene feels bigger than reality itself. That’s where cinema becomes a form of inner freedom.

How do you use film as a medium to address social or political issues?

By showing life itself. A radio in the background with the presidential speech and a boring childhood says more than any direct messages. Politics here is everywhere, but I choose to show it in its raw, indirect form.

What are your role models?

I don’t really believe in role models in the traditional sense. I’m more inspired by contradictions. Zizek, for example, because he shows how truth can appear through paradox or even a joke. In cinema, I connect with filmmakers like Godard and Elia Suleiman, who blur the line between the personal and the political, reality and absurdity. They remind me that film is not about providing answers but about asking the right uncomfortable questions.

Are there particular moments or scenes in “10 Minutes Younger” that are especially meaningful to you personally?

After the daydream ends, Julie sees the feather on Waleed’s ear, and she doesn’t understand how it got there. That small mysterious moment captures the idea of how imagination can leave a subtle mark on reality.

What messages do you hope to convey to audiences through your films?

My films are about feelings and experiences. I want the audience to sense memory, confusion, quietness, and small moments of fake freedom.

You are also working on a documentary film, “Uncivilized Roots”. What is it about?

“Uncivilized Roots” is an experimental documentary not about borders drawn on maps, but about the hidden ones etched in our minds. Exile is lived as a rhythm, where memories of home, voices, and familiar faces collide with the silence and cold streets of Europe. Aimless conversations, recurring images, and restless leaps of events – similar yet different – reveal the difficulty of belonging, and expose what it means to be Palestinian in a world that never feels like home.

For you, what is the most important untold story?

THE FUTURE OF THE PALESTINIANS.

Das Palestine Arts Film Festival läuft vom 11.-16. September in Zürich.

Zur Regisseurin: Nisreen Yaseen ist eine palästinensische Filmregisseurin aus der West Bank. Ihre Leidenschaft gilt dem Arthouse-Kino und dem Erzählen von Geschichten, die Identität, Vertreibung und kulturelle Komplexität thematisieren. In ihren Regiearbeiten vermischen sich narrative und experimentelle Elemente. Nisreens Filme spiegeln ihre Vision wider, die palästinensische Erfahrung in einem globalen Kontext zu erfassen.

* Im Interview mit RefLab spricht die Regisseurin von Genozid; die Redaktion macht sich diesen Begriff nicht zu eigen, da darüber in der Forschung keine Einigkeit besteht. Allerdings stufte vor wenigen Tagen die weltweit grösste Vereinigung von Genozid-Forschenden, die «International Association of Genocide Scholars» IAGS, das Vorgehen des israelischen Militärs im Gazastreifen als Völkermord ein.  

Fotos: Filmstills aus «10 minutes younger» von Nisreen Yaseen.

1 Gedanke zu „Verlorene Zeit und flüchtige Freiheitsmomente“

  1. “Ich möchte, dass das Publikum Erinnerung, Verwirrung, Stille und kleine Momente von Fake-Freiheit spürt.”

    Die URSACHE aller Probleme unseres symptomatisch-konfusen “Zusammenlebens”, ist der im zeitgeistlich-reformistischen Kreislauf nun “freiheitliche” WETTBEWERB um die wettbewerbsbedingt-konfuse Symptomatik – Illusionen zu spüren ist nicht genug, Mensch lebt nicht von Brot und schon garnicht allein, wir brauchen also stets einen klaren Hinweis auf eine Welt- und Werteordnung OHNE wettbewerbsbedingt-konfuse Symptomatik, auf eine Vernunft im Verantwortungsbewusstsein zu einem globalen Gemeinschaftseigentum “wie im Himmel all so auf Erden”, dann klappt es auch mit Spiritualität, die dann keiner Pflege der gleichermaßen unverarbeitet-instinktiven Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und egozentriertem “Individualbewusstsein” anhängt!?

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Das RefLab-Team prüft alle Kommentare auf Spam, bevor sie freigeschaltet werden. Dein Kommentar ist deswegen nicht sofort nach dem Abschicken sichtbar, insbesondere, falls du am Abend oder am Wochenende postest.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

RefLab regelmässig in deiner Mailbox