Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 6 Minuten

Über das Reden reden

Das Schlimmste im Moment sind nicht die Tatsachen. Sie sind bedrohlich genug. Richtig gefährlich sind die Einschätzungen über die jeweilige Gegenseite. Und besonders, dass solche Einschätzungen nicht mehr nur von den extremen Rändern der jeweiligen Gegenseite kommen, sondern sich in die Mitte der Gesellschaft vorarbeiten.

Zeit für Pragmatismus?

Mai Thi Nguyen-Kim, Fernsehmoderatorin, Wissenschaftsjournalistin und Youtuberin mit fast 1.5 Millionen Abonnent:innen hat sich diese Woche für eine Impfpflicht ausgesprochen. Eine Impfpflicht sei weniger krass als eine Sicherheitsgurtpflicht. Schliesslich schütze die Impfung im Gegensatz zu Sicherheitsgurten auch andere. Das sei ganz rational, denn der Impfschutz sei sicher, er schütze und die Pandemie sei noch nicht vorbei. Auf dieser Grundlage fordert sie ein pragmatisches, faktenorientiertes Vorgehen: «Jetzt ist nicht die Zeit für Perfektion. Jetzt ist die Zeit für Pragmatismus!»

Leider ist Ethik nicht so einfach wie Naturwissenschaft.

Die Sicherheitsgurtpflicht ist ein verhältnismässig geringer Eingriff in die Freiheit einer Person. Man kann kaum ernsthaft bestreiten, dass dieses Gesetz verhältnismässig sei. Aber eine Impfung ist ein Eingriff in den Körper eines Menschen. Jemand, der diesen Eingriff ablehnt, erfährt ihn als Verletzung seiner körperlichen Integrität und als Verletzung seiner Personenwürde.

Der Berner Medizinethiker Mathias Wirth spricht sich für ein Impfobligatorium aus. Es soll mit Geldbussen durchgesetzt werden. Die Polizei würde dann jene Orte überwachen, die nur mit einem Impfnachweis betreten werden dürfen.

Was ist pragmatisch?

Aber rechtfertigt die Gefahr wirklich derart massive Eingriffe des Staates in die Freiheitsrechte seiner Bürger:innen? Es geht nicht um die Gefahr durch das Covid-19-Virus. Diese Gefahr ist beträchtlich. Es geht einzig um die Differenz an Gefährdungspotential geimpfter oder genesener Menschen im Verhältnis zu denjenigen, die getestet sind.

Es ist legitim, wenn eine Gesellschaft, nachdem alle Zugang zur Impfung hatten, die Tests nicht mehr übernehmen will und gleichzeitig 3G-Regelungen für bestimmte Lebensbereiche durchsetzt. Wenn der Staat an manchen Orten aber nur 2G akzeptiert, braucht er dafür starke Gründe. Bis jetzt können Menschen ohne Zertifikat, insofern sie eine Maske tragen, den öffentlichen Verkehr nutzen. Wie kann man dann plötzlich Menschen, die getestet sind, aus Sportgeschäften, Kaffees oder Veranstaltungen ausschliessen?

Seit mehreren Monaten verzichten viele Schulen auf Tests.

Die Lehrkräfte und die Eltern dieser Kinder, deren Eltern und ihr ganzes Umfeld sind einer nicht unbeträchtlichen Ansteckungsgefahr ausgesetzt.

Das ist nicht schön. Aber es ist pragmatisch. Denn es erlaubt einen weitgehend normalen Schulbetrieb und ein Mindestmass an Planbarkeit für die erwerbstätigen Eltern. Letztlich ist es eine Güterabwägung: Das soziokulturelle Umfeld der Schule für die Kinder ist der Gesellschaft mehr wert, als die Risikominimierung.

Es wäre kohärent, dies ebenfalls auf diejenigen Jugendlichen und Erwachsenen zu beziehen, die sich aus – freilich irrationalen und falschen Gründen – nicht impfen lassen wollen, wenn es um deren Teilhabe am sozialen Leben geht. Ihnen soll nicht alles offen stehen. Aber mehr, als sie zum überleben brauchen.

Verbindende Angst

Wir stehen als Gesellschaft nicht an dem Punkt, an dem ein brennendes Gebäude evakuiert werden muss und Sicherheitskräfte ganz pragmatisch Leute aus der Gefahrenzone entfernen müssen. Wir kennen das Risiko. Wir wissen, wie man es minimiert. Und wir sehen, wie gewisse Menschen diese Fakten ignorieren und damit sich selbst und andere in Gefahr bringen. Während wir uns zu Beginn ziemlich geschlossen hinter den etwas vulgären Aufruf «Stay the fuck at home!» gestellt haben und ein gesellschaftlicher Konsens darüber bestand, dass wir die besonders vulnerablen Menschen schützen sollten, gibt es heute nur noch wenig, worüber sich alle einig sind: Nicht über die Bedrohungslage, nicht über die Massnahmen, nicht über die Wirksamkeit der Impfung oder das Vertrauen, das Wissenschaft, Politik oder Schulleitungen verdienen. Da trennen uns Welten. Gemeinsam ist uns die Angst vor der «Spaltung der Gesellschaft».

Aber das ist nicht Nichts. Eine Ehe im Streit ist schlimm. Aber solange beide Seiten die Scheidung noch fürchten, ist es nicht hoffnungslos. Aber man muss darauf achten, rote Linien nicht zu überschreiten. Tabus haben ihren Sinn. Die beiderseitige verbale Aufrüstung bereitet aber den Boden für Tabubrüche. Ein Sturm auf das Bundeshaus, staatlicher Impfzwang, ein diktatorisch agierender Bundesrat oder die politische Bildung einer Zweiklassengesellschaft müssen undenkbar bleiben. Wenn wir diesen Irrsinn ständig aussprechen, füllen wir ihn mit Wirklichkeitsmacht auf. Das Undenkbare wird sagbar.

Wir müssen anders übereinander reden, damit wir wieder zusammen sprechen können. Und das sollten wir. Denn beide Seiten stehen in einem Lernprozess.

Komplementärer Lernprozess

Die vernünftige, liberale und humanistische Gesellschaft sollte ihren zentralen Glaubenssatz überdenken, dem gemäss nichts über die individuelle Freiheit und das «Selber denken» geht.

Ist eine Gesellschaft daran zu messen, wie frei sich alle zu allem äussern oder daran, wie gut sie die schwächsten Mitglieder schützt und einbindet?

Und ist die blinde Steigerung individueller Freiheit wirklich der Weg, um Fairness für die Schwächsten zu erreichen? Sie muss lernen, zwischen der Gleichheit aller Menschen an Würde und der Ungleichheit ihrer Gesellschaftsmitglieder an Kompetenz und Wissen zu unterscheiden und damit umzugehen, dass beide Differenzen den Sozialen Medien egal sind.

Die staatskritischen, wissenschaftsskeptischen und antiautoritären Gruppen unserer Gesellschaft stehen vor der Herausforderung, das liberale, demokratische Spiel auch wirklich anzunehmen.

Sie müssen anerkennen, dass dem Recht auf eine eigene Meinung die Pflicht entspricht, über die Gründe, auf denen diese Meinung beruht, Rechenschaft abzulegen.

Und dass Widerstand und Skepsis an sich noch keine Währung sind, mit der man sich im Meinungsmarkt etwas kaufen kann. Sie müssen in ihren jeweiligen Weltbildern damit zurechtkommen, dass sich die Gesellschaft an den Erkenntnissen der Scientific Community orientiert und über Wahrheit nicht abgestimmt, sondern geforscht wird.

The Best Is Yet To Come

Es wird für die meisten von uns die Zeit kommen, in der wir auf die Pandemie zurückblicken. Aber wir werden dies in einer Welt tun, die sich weit grösseren und bedrohlicheren Herausforderungen zu stellen hat. Wir sind mitten in der Klimakrise, stehen vor zurückgedrängten Migrationsfragen, die uns bald einholen werden und wissen, dass sich der Arbeitsmarkt durch die vierte industrielle Revolution grundlegend verändern wird. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt schon an der Corona-Krise scheitert, werden wir diesen Herausforderungen nicht gewachsen sein.

Entweder wir lernen aus dieser Krise oder wir nehmen uns bereits in der Vorrunde aus dem Spiel.

Nur geht es in diesem Spiel um alles. Und wenn ich wetten müsste, würde ich dabei auf demokratische Staaten setzen, die durch starkes zivilgesellschaftliches Engagement verbunden sind, solche, die sich vielfältige und qualitativ hochstehende Medien leisten, in ganzheitliche Bildung investieren und hundert kreative Ideen haben, bevor sie zu repressiven Massnahmen greifen.

Wie in einer guten Ehe

In unseren westlichen Gesellschaften waren die Kirchen in den letzten Jahrhunderten in der Rolle, solche Entwicklungen zu fördern. Sie haben nicht mehr die Kraft, das Band, das uns verbindet, zu halten. Gleichzeitig haben auch moderne Formen, wie Parteien oder Vereine, die Milizarmee oder die Tageszeitungen an Einfluss verloren. Wir kennen das Neue noch nicht, das an deren Stelle treten wird. Wird es sich aus ihnen selbst herausbilden oder setzt es deren Niedergang voraus?

Jedenfalls fehlt es. Und bis etwas Neues da ist, sollten wir uns alle in gesellschaftlichen Tugenden üben: Miteinander hoffen, voneinander das Beste erwarten, gemeinsam um Lösungen ringen und auch in der persönlichen Niederlage Fassung bewahren, die Andersheit anderer mitbedenken, einbeziehen und uns gut informieren, bevor wir schreiben und reden. Vor allem, wenn wir über «die anderen» sprechen. Und vielleicht öfters fragen, statt unterstellen. Halt wie in einer guten Ehe.

 

 

5 Kommentare zu „Über das Reden reden“

  1. Danke lieber Stephan: wie immer klug und durchdacht geschrieben! das poste ich gerne weiter und kann nur sagen:
    So würd‘ ich’s auch sagen, wenn ich es denn so gut sagen könnt‘ wie Du!

    Liebe Grüsse

    Roland

  2. Ebenfalls nichts auszusetzen. Gut analysiert und dargestellt. Dennoch spüre ich in den (für dich sonst eher untypischen) Inflation von „wir sollten …“ Apellen im Text auch die Hilflosigkeit (die ich teile) heraus.
    Kaum mehr je als jetzt bewahrheitet sich schmerzhaft das manchmal überstrapazierte, aber nicht weniger wahre „Böckenfördsche Diktum“: „… der säkulare, liberale Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann!“ Das erleben wir nun. Konstruktivistisch ist das nicht zu etablieren und Kirchen und „christliches Abendland“ haben nicht mehr die Bindekraft, es zu begründen. Wie dann? Denn ohne geht’s auf Dauer nicht! Ist da was im Werden? Ich seh’s wie du noch nicht. Deshalb z.Zt. viel hilfloses Hoffen. Worauf genau?

  3. Vielleicht könnten wir damit beginnen, uns von der Idee zu verabschieden, dass unsere eigenen Wahrheiten, Empfindungen und Überzeugungen eigentlich doch gemeinsames Gut sind: sind sie nicht! Im Rahmen des Evangelischen Theologiekurses machen wir jeweils das Experiment, die Teilnehmenden für 5 Minuten auf die Strasse zu schicken und ihre Wahrnehmungen zu notieren. Wenn die Leute sich nachher darüber austauschen, könnte man manchmal bezweifeln, dass wirklich alle die selbe Zeit am selben Ort verbracht haben. Wahrheit ist ein Konstrukt. Das scheint in der Pandemie hüben wie drüben vergessen gegangen zu sein…

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