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 Lesedauer: 3 Minuten

Tobias hat das Gummiboot reserviert!

Leuchtendes Gesicht

Sein Gesicht fällt ihr heute nicht zum ersten Mal auf. Die braunen Augen träumen. Der bartumsäumte Mund zwinkert. Seinen Namen kannte sie bisher nicht – dafür ist ihre Wohnsiedlung zu gross und ihr Mut zu klein. Manchmal begegnete sie ihm beim Fahrradständer, doch an diesem Morgen leuchtet sein Gesicht auf ihrem Handybildschirm auf.

«Tobias hat das Gummiboot reserviert», meldet ihr die App «Leihhaus».

Die Gummiboot-Patin

Sie schaut sich die Bewertungen auf seinem Profil an – natürlich nur, um ihre Pflicht als «Gummiboot-Patin» zu erfüllen. Schliesslich muss sie kontrollieren, ob ihr gemeinschaftlich verwalteter Schützling in guten Händen sein wird.

«Tobias hat die Slackline termingerecht zurückgegeben», lautet die erste Bewertung.

«Er hat sogar noch das Loch in der Hängematte geflickt, das schon vorher drin war.»

Andrej K. gibt ihm nur drei Sterne und kommentiert: «Auf dem DJ-Set war noch echt viel Glitzer und Konfetti drauf.»

Ein Mut-Anfall

«Sympathisch», denkt sich Verena und schaut nach, ob er bisher schon Hochzeitsdeko oder einen Kinderwagen ausgeliehen hat. Gerade als sie seine Reservation bestätigen möchte, kommt ihr ein Gedanke.

«Verena hat dir eine Nachricht geschickt.» Tobias wartet an der Kasse im Coop, als sein Handy vibriert.

«Hi Tobias. Meine Freundin Annik und ich wollten an diesem Tag eigentlich mit dem Gummiboot auf den Rhein. Wie wäre es, wenn wir einen gemeinsamen Ausflug machen?»

Sommerflirt

Die Sonne zwinkert. Die Wellen träumen. Sonnencreme füllt die Nasenhöhlen mit Sommer. Verena droht Tobias aus dem Boot zu kippen, wenn er nicht rudert. Tobias droht Verena mitzureissen, würde sie es versuchen. Beiden droht eine schlaflose Nacht, weil sie jedes Lächeln und jeden Augenkontakt nochmals in Erinnerung rufen und sich fragen werden, ob ihr Puls das Freundschaftstempo schon überschritten hat.

Grossmutters Polaroid

Eine Entenfamilie treibt an ihnen vorbei. Verena freut sich über die fürsorglichen Blicke der Entenmutter. Tobias erwähnt beiläufig, dass er am Vortag seine Grossmutter besucht hat. Wie fürsorglich von ihm. «Echt krass, wie die damals gelebt haben», erzählt er. «Manchmal hat meine Grossmutter einen ganzen Samstagmorgen damit verbracht, Rezensionen zu lesen, um die beste Bohrmaschine oder Polaroid-Kamera zu finden.»

«…die sie dann bestimmt nur einmal benutzt hat, bevor sie in der Abstellkammer verstaubt sind», ergänzt Verena.

Tobias lacht: «Und dann musste sie während einer ganzen Ferienwoche aufräumen und ausmisten, um Platz zu schaffen für neue Dinge, die sie kaum brauchte.»

Leihen statt swipen

Obwohl sich Annik mit geschlossenen Augen auf der anderen Seite des Gummiboots ausgestreckt hat, scheint sie genau zu spüren, was in der Luft liegt. Sie aktiviert ihre tiefenentspannten Stimmbänder: «Ich habe kürzlich gelesen, dass der Bedarf an Umzugsunternehmen und Rako-Kisten massiv zurückgegangen ist, seit es in den meisten Quartieren Leihhäuser gibt.» Mit einem mysteriösen Tonfall fügt sie an: «Auch Dating-Apps werden seither kaum noch genutzt.»

«Woran das wohl liegt?», fragt Verena unschuldig und verbirgt ihr Lächeln, während sie eine Bierdose öffnet.

Grafik: Rodja Galli

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1 Kommentar zu „Tobias hat das Gummiboot reserviert!“

  1. Natürlich musste ich einfach lesen, was es mit dem Gummiboot auf sich hat – und bin in einer herzigen und hübsch erzählten Geschichte gelandet. Okay, Alubüchsen müssten in der Postapokalypse nicht mehr sein, aber dein Ansatz scheint mir richtig, mit positiven Bildern zu arbeiten und nicht nur auf die Schrecken zu fokussieren, die wir ja jetzt schon sehen.
    Ich wünsche Verena und Tobias und Annik und nicht zuletzt Anna eine lebenswerte Zukunft!

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