Ich bin noch nicht fertig mit J.K. Rowling.
Unsere jüngste Tochter ist gerade 10 Jahre alt und vom Ende der Saga trennen uns noch knapp 1500 Seiten. Sie ist inzwischen die dritte Tochter, der ich Geschichten aus Hogwarts vorlese. Auch der Wunsch, ich möge doch auch eventuellen künftigen Enkeln als Harry-Potter-Vorleser zur Verfügung stehen, wurde schon geäußert. Harry Potter gehört fast zur Familie. Und jetzt diese Debatte:
Darf man Kindern noch Harry Potter vorlesen?
Bücher von einer Frau, die sich trans-, wenn nicht minderheitenfeindlich geäußert hat?
Sind das alles übertriebene Probleme von Wohlstandsgesellschaften, denen es an größeren Krisen fehlt? Leider nein. J.K. Rowling wird nicht kritisiert, weil sie Zweifel hat an den letzten Wendungen queerer Identitätstheorien. Die Schriftstellerin Rowling hat Fans in vielen Ländern, in denen transidente und nichtbinäre Menschen nicht nur gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren, sondern Opfer von polizeilicher Verfolgung und Opfer öffentlicher Gewalt werden.
Was für ein Signal ist es da, in sozialen Netzwerken Beiträge zu liken, die transidente Frauen als verkleidete Männer verhöhnen? Oder vermeintlich witzige Tweets zu posten über Aktionen, die fairen Zugang zu Hygienemittel für alle fordern, die ihrer bedürfen? Nur Malfoy, Crabbe und Goyle würden darüber lachen können. Hermine niemals, ebenso wenig wie Harry und Ron. Die Weasleys auch nicht (außer vielleicht Percy in schwachen Stunden), genauso wenig wie Dumbledore, Luna Lovegood oder Nevill Longbottom.
Das macht es für viele so verstörend. Das Gefühl: sie müsste es doch so viel besser wissen.
Mehr als eine Buchreihe
Harry Potter ist für viele weit mehr als eine Buchreihe. Die Welt von Hogwarts war für sie eine Schule des Herzens, die neben humorvoller und spannender Unterhaltung auch einen moralischen Kompass vermittelte.
Harry Potter war für Unzählige eine Grundimpfung in Sachen Antirassismus. Die ganze Saga lässt sich lesen als kritische Auseinandersetzung mit totalitären und rassistischen Gedanken.
Die Welt der Harry-Potter-Bücher ist befallen von der Ideologie, dass nur Menschen aus reinblütigen Magierfamilien Macht und Einfluss haben sollten. Den Vertretern dieses Wahns gelten Menschen aus nichtmagischen Familien als „Schlammblüter“, völlig unabhängig davon, was sie können und leisten. Als minderwertig sehen sie auch alle nichtmenschlichen magischen Wesen an wie Riesen oder Zentauren.
Gegenüber diesem Blut- und Abstammungsrassismus vereint all unsere Held*innen die Überzeugung: „Viel mehr, als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind“ (Albus Dumbledore). Wenn Harry und Ron erleben, wie ihre hochbegabte Freundin Hermine als Schlammblüterin verspottet wird, müssen sie als Halb- bzw. Reinblüter nicht lange nachdenken um zu wissen, wie perfide ein solcher Überlegenheitswahn ist.
Vorbilder mit Lernbedarf
Und nun ist es das Reizvolle in diesen Büchern, dass auch die größten Vorbilder nicht ohne erheblichen Lernbedarf sind. Viele verstehen gut, wie notwendig der Kampf gegen eine solche Reinheitsideologie ist. Meistens. Nur nicht, wenn es um Hauselfen geht. Kleine magische Wesen, die innerhalb der großen Familien als Hausdienerschaft vererbt werden. Das finden alle selbstverständlich. Selbst viele Elfen finden ihren untergeordneten Zustand natürlich. Nur Hermine lässt sich nicht beirren. Sie weiß, dass das falsch ist. Genauso falsch wie die Verachtung von Schlammblütern oder Halbmenschen. Auch dann, wenn nicht mal die Betroffenen darunter leiden. Und so gründet sie einen Bund für Elfenrechte, inklusive Sticker und Aktionen. Selbst ihre Freunde machen dabei nur widerwillig mit.
Und die Leser*innen verstehen: Gerechtigkeit lernt man ein Leben lang nicht aus.
Manchmal siehst Du Unterschiede und machst keine, um allen gerecht zu werden. Manchmal ist Benachteiligung weder sichtbar noch spürbar; und Du musst sie sichtbar machen, damit sie beseitigt werden kann. Manchmal willst Du einigen Menschen unbedingt gerecht werden; und verlierst darüber andere aus dem Blick. Und manchmal wird Rechthaben zur Rechthaberei.
Und das steht nicht schon alles in der Hausordnung. Das haben die Gründer deiner Schule nicht schon alles vor tausend Jahren gewusst. Das lernst Du nur durch die Herzenskunst der Perspektivübernahme, vom anderen her zu denken und die Welt aus seiner Sicht zu erfahren. Und solche Lerngeschichten in Sachen Gerechtigkeit finden sich in Harry Potter zuhauf.
Menschenverachtung lässt sich nicht mit Menschenverachtung austreiben
Was soll man machen mit J.K. Rowling, die so gut erzählen kann, wie Diskriminierung funktioniert – und bis jetzt nicht verstehen will, wie verletzend einige ihrer Tweets in den letzten Jahren waren? Müsste ich nicht doch fertig sein mit J.K. Rowling? Nein, bin ich nicht. Es beunruhigt mich vielmehr, wie selbstverständlich z.B. die englische Boulevardpresse in dieser Situation glaubte, die Nachricht, dass ihr früherer Ehemann nicht bereue, sie geschlagen zu haben, passe gerade ganz gut zur allgemeinen Stimmung. Kritik ist notwendig.
Aber Menschenverachtung lässt sich nicht durch Menschenverachtung beseitigen, genauso wenig wie man Respekt durch Verächtlichmachung erzwingen kann.
Wokeness ist eine lebenslange Lernaufgabe. Wer kann sich anmaßen, in den letzten 20 Jahren nicht den einen oder anderen Lernbedarf bei sich selbst entdeckt zu haben, was eigene blinde Flecken angeht?
Da gibt es junge Menschen in Leipzig, Chemnitz und Potsdam, die aus dem Stand die gravierendsten Ungerechtigkeiten des amerikanischen Rechts- und Gesundheitssystems gegenüber Schwarzen benennen können – aber noch nie auf die Idee gekommen sind, das Geschick vieler Christ*innen in der DDR, die systematisch von den meisten universitären Studienfächern und anderen Formen gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen worden sind, als Form schwerer Diskriminierung zu betrachten.
Auf der anderen Seite gibt es bibelfeste Christenmenschen, die sich schon öfter als sie zählen können an der Geschichte vom barmherzigen Samariter erbaut haben – und noch nie die offensichtliche Parallele gezogen haben: diese Geschichte zeigt exemplarisch, wie man sich in der Nachfolge Jesu über Anhänger anderer Religionen oder Weltanschauungen äußert, z.B. über Muslime oder Atheisten.
Eigene Diskriminierungen und diesbezügliche blinde Flecken zu durchschauen, ist eine Lebensaufgabe.
Dass Du den einen oder anderen Gleichheitsgrundsatz schneller akzeptiert hast als J.K. Rowling heißt nicht, dass Du in Sachen Wokeness die Lizenz zum Verachten aller Zurückgebliebenen erworben hast. Ich bin noch nicht fertig mit J.K. Rowling. Und ich hoffe sehr: sie selbst auch nicht.
Aus Hogwarts wird man eines Tages entlassen. Aus der Schule des Lebens nie. Die Welt ist voller phantastischer Tier- und anderer Wesen, an denen Du Deinen Gerechtigkeitssinn schulen kannst.
Die einzige Gerechtigkeit, die Du übertreiben kannst, ist die Selbstgerechtigkeit. Auch in der Kritik an denen, die noch Lernbedarf haben.
2 Gedanken zu „Noch nicht fertig mit J.K. Rowling“
Mittlerweile hat sich JK Rowling in einem Essay dazu geäußert, was ihre Gründe sind “for Speaking out on Sex and Gender Issues”.
https://www.jkrowling.com/opinions/j-k-rowling-writes-about-her-reasons-for-speaking-out-on-sex-and-gender-issues/
Danke, habe es auch gelesen. Mit viel Empathie, Verständnis und gelegentlichem Kopfschütteln 😉