Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 5 Minuten

Fernschreiben aus dem Wald (5)

Darf ich das? Ungefragt schreibe ich hier, im Dählhölzliwald in Bern, vor Ihren Augen, meine Gedanken in ein Notizbuch. Beinahe nötige ich Sie mitzulesen. Wobei nein, Sie könnten ja einfach weiterspazieren. Anscheinend interessieren Sie sich mehr für die Aneinanderreihung von Buchstaben als für die Eichhörnchen, die in diesem Augenblick über Ihrem Kopf in den Baumwipfeln Kunststücke aufführen und um Ihre Aufmerksamkeit buhlen.

Was heisst überhaupt „meine Gedanken“? Sie sind mir zugeflogen, eingefallen, aufgestossen. Ohne Aussenwelt keine Innenwelt. Wobei ich nicht weiss, wie diese beiden Welten die Bildung von Gedanken, die ich sodann als die meinen verstehe und ausgebe, genau beeinflussen.

Herrjemine! Ich will Ihnen hier nicht eine unbeholfene Einführung in die Philosophie unterjubeln. Überhaupt bin ich nicht vom Fach, bin von Berufes wegen mehr Dilettant als Philosoph, ein Dilettantosoph. Oh Schreck! Sie haben recht. Bitte keine Wortspiele. Ach! Vielleicht ist das hier nur ein weiterer Versuch, mich möglichst elegant blosszustellen. Oder ich winde mich.

Warten Sie darauf, dass ich nun endlich zu einem sogenannt aktuellen Thema meine Meinung äussere? Okay. Ein paar Fragen vorab: Suchen Sie nach einer Meinung, die die Ihre bestätigt oder widerlegt? Wären Sie überhaupt offen für eine argumentative Widerlegung?

Wann haben Sie zuletzt aufgrund einer anderen Meinung die Ihrige geändert?

Im Allgemeinen sind wir Menschen doch ziemlich überzeugt von dem, was wir vermeintlich selbst denken. Zumindest spielen wir uns dies gerne so vor, suchen für gewöhnlich nach Quellen, die uns bestätigen, nicht nach solchen, die uns widerlegen könnten. Und nicht wenige von uns haben schon eine Meinung zu einem Thema, bevor sie sich überhaupt eine gebildet haben. Magie! Zu sagen: „Dazu habe ich keine Meinung“, braucht oft mehr Mut, als einfach irgendwas zu sagen, sprich zu zitieren, was man selbst gar nicht überprüft hat, und es dann schamlos als die eigene Meinung auszugeben.

Der Mündigkeit muss man nur das „n“ stibitzen und sie wird zur Müdigkeit. Gedankenmüdigkeit?

Gefährliches Halb- bis Garnichtwissen. Wie sagte es doch Marie von Ebner-Eschenbach mal so schön: „Ein Urteil lässt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurteil.“

Aber wir, also im speziellen Sie und ich, wir sind nicht so. Wenn ich das mal so behaupten darf.

Wir sind mündig und weltoffen. Jedoch, wenn wir sagen müssten, welcher Welt gegenüber wir nun genau offen sind, dann gerieten wir ins Stocken.

Aber da – wenn man von sich behauptet, man sei weltoffen – niemand nachfragt, wie weit offen man denn sei, manövriert man sich so auch nicht in eine unangenehme Situation. Man ist sozusagen nichtssagend weltoffen. Sind wir aber nicht vor allem unserer eigenen Welt gegenüber, die wir auch kaum zu reflektieren vermögen, offen? Puh! Anstrengend, nicht?

Oh, nein! Ich merke gerade, dass ich es nun doch nicht geschafft habe, meine Meinung nicht zu äussern. Und Sie stehen noch immer vor mir, der ich auf dem Zeigefinger peinlich berührt meinen Kugelschreiber balanciere. Ich bin peinlich berührt von mir selbst. Schäme mich für mich selbst fremd. Scham bedeutet auch Demut. Und mehr Demut schadet niemandem von uns. Auch wenn ich nun nicht genau sagten könnte, wen alles ich mit „uns“ meine.

Das bringt mich auf eine Idee! Lassen Sie uns jetzt zusammen eine Yogaübung machen. Denn offenbar stecken wir gerade in einem Naherholungsgedankenstau fest. Das muss nicht sein!

Wir müssen also einen Weg finden, den Stau in unseren Köpfen aufzulösen.

Also, los! Schuhe und Socken ausgezogen, aufrechter Stand, die großen Zehen berühren sich, Arme nach oben gestreckt, die Handinnenflächen berühren sich. Blick zu den Gymnastikeichhörnchen in den Baumwipfeln über uns gerichtet, nun den rechten Fuss mit großem Ausfallschritt nach hinten bringen.

Jetzt leicht ausatmen und dann den Kopf ruhig zu Boden sinken lassen. Spüren Sie es schon? Sie kommen langsam ganzheitlich im Wald an. Eigen- und Fremdmeinungen lassen ab von Ihnen, Sie finden Atemzug für Atemzug zu Ihrem inneren Eichhörnchen zurück, das Sie im Alltag ganz vergessen haben. Es symbolisiert das Spielerische an und in Ihrem Wesen, das Leichte, das Unbeschwerte!

Jetzt bewegen Sie den linken neben den rechten Fuss und strecken den Po nach hinten aus, die Arme breiten Sie seitlich aus. Atmen Sie mit geschlossenen Augen zehn Mal schnell ein und aus. Aber provozieren Sie dabei um Himmels Willen keine Schnappatmung. Nun ist es so weit! Öffnen Sie Ihre Augen wieder. Sie haben das nächste Level erreicht. Sie sind jetzt ein Flughörnchen, bereit vom Waldboden abzuheben und eine Zeit lang in der Meinungslosigkeit zu schweben. Nochmals tief einatmen und beim ausatmen geht’s los!

 

Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Spoken Word Artist und Speaker. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Regelmässig Auftritte in ganz Europa, in den U.S.A., in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Zuletzt erschien sein Roman „Erwachen im 21. Jahrhundert“ (Zytglogge, 2018). Für nächstes Jahr ist ein neues Buch in Arbeit.  www.juerghalter.com

Foto: Anastasia Zehnder

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