Ich halte Zahlen für wenig hilfreich, wenn es um Sex geht. Für die Rezension von Agota Lavoyers Buch «Jede_ Frau» habe ich trotzdem gezählt: Elf. Mindestens elf Männer haben mir sexualisierte Gewalt zugefügt.
Vom Griff eines jugendlichen Schwimmschülers zwischen meine Beine, über den Arzt, der mir zur Begrüssung unpassenderweise die Hand auf die Schultern legte, bis hin zu einem männlichen Gegenüber, das mich zu Sex überredete – wir wären ja schon so weit gegangen.
Die Alltäglichkeit von sexualisierter Gewalt
Dies nur drei der elf Beispiele, die mir spontan einfallen. Manche sexualisierte Gewalt, die ich erlebte, war so schmerzhaft und traumatisierend, dass ich die Narben bis heute spüre, wenn es um körperliche Nähe geht.
Ich schreibe das nicht, weil ich es besonders krass finde. Im Gegenteil. Dies sind ziemlich durchschnittliche Erfahrungen einer Frau in unserer Gesellschaft.
Ich listete sie während einer Zugfahrt zur Arbeit auf, als wäre es etwas völlig Normales, was man in einer S-Bahn tut. Als wäre es komplett logisch, dass man als Frau früher oder später sexualisierte Gewalt erlebt.
Nach dem Motto: «Ist scheisse. Gehört halt dazu. Musst halt aufpassen.» Schulterzucken.
Genau das ist «Rape Culture». Und genau da beginnt Agota Lavoyers Buch.
Warum wir in einer «Rape Culture» leben
Die Reaktionen nach der Veröffentlichung waren so heftig, dass Lavoyers Instagram-Account zwischenzeitlich gesperrt war. Ein Musterbeispiel dafür, wie wirkmächtig «Rape Culture» in unserer Gesellschaft ist.
Doch beginnen wir von vorne: Die ehemalige Sozialarbeiterin und Beraterin für Betroffene beschreibt einleuchtend, dass der Begriff «Rape Culture» im englischsprachigen Raum ein breiteres Spektrum sexualisierter Gewalt umfasst. Er lässt sich nicht einfach mit «Kultur der Vergewaltigung» übersetzen.
Studien, in denen Männer zu verschiedenen Szenarien befragt wurden, zeigten, dass sie genau unterscheiden konnten, wann ein Verhalten grenzverletzend war. Dies entgegen der Unkenrufe, man wisse ja gar nicht mehr, was man eigentlich dürfe.
Vielmehr beginnt «Rape Culture» mit Blicken oder Worten, die Menschen zu einem sexualisierten Objekt degradieren und endet mit Morden, bei denen Männer ihre (Ex-)Frauen umbringen.
Die Zeitungen betiteln diese sogenannten Femizide gerne als «Beziehungsdramen».
Sexualisierte Gewalt hat System
Medial und gesellschaftlich wird das jeweils als tragischer Einzelfall abgehandelt. Doch genau das ist falsch. Sexualisierte Gewalt hat System, betont Lavoyer. Sie ist das Ergebnis davon, dass patriarchale Denk- und Handlungsmuster bis heute in unseren Köpfen existieren, aber nie benannt und dekonstruiert wurden.
Lavoyer fokussiert sich übrigens bewusst auf sexualisierte Gewalt bei Frauen – auch wenn sie auch sexualisierte Gewalt bei Männern erwähnt. Denn die Zahlen zeigen, dass anders als bei Männern bei Frauen nicht die Frage ist, ob sie sexualisierte Gewalt erleben, sondern wann:
Jede dritte Frau erlebt in ihrem Leben einen körperlichen sexualisierten Übergriff.
Zwei Drittel aller Frauen werden regelmässig (!) verbal sexuell belästigt. Eine Studie von 2022, die im Buch zitiert wird, ergab sogar, dass 97 % der Befragten zwischen 16 und 72 Jahren in den letzten drei Monaten mindestens eine Version von «Catcalling» [1] erlebt hatten.
Denn auch wenn Frauen politisch und gesellschaftlich gleichberechtigter leben, das Ehegesetz revidiert wurde und seit Juli 2024 «Nein heisst Nein» gilt, hält Lavoyer fest:
Wir leben nach wie vor in einer Kultur, die Täter schützt, an der Wahrnehmung der Opfer zweifelt und sie x-fach nach ihrer Mitverantwortung befragt: «Hast du getrunken? Was hast du getragen? Hast du dich denn nicht gewehrt?»
Diese Täter-Opfer-Umkehr ist bequem. Denn solange man die Hände in die Luft wirft und jede Form von sexualisierter Gewalt als unberechenbaren Einzelfall abstuft, muss man sich als Gesellschaft nicht damit beschäftigen: «Man kann ja leider nichts machen!» Auf diese Weise wird die Systematik sexualisierter Gewalt nicht fassbar und man negiert, dass wir als Gesellschaft oder Institutionen viele Parameter hätten, um sexualisierte Gewalt zu verhindern.
Opfer müssen sich nicht «besser» schützen
Das ist das Perfide an einer «Rape Culture», schreibt Lavoyer: Sie drückt den Betroffenen die Verantwortung auf. «Rape Culture» sagt: «Wenn du keine sexualisierte Gewalt erfahren willst, musst du dich als Frau anders verhalten.»
Als würde man Fussgänger*innen dazu anhalten, doch vorsichtiger über den Zebrastreifen zu laufen, wenn sie grünes Licht haben, anstatt die Autofahrenden dafür zu büssen, dass sie bei Rot über einen Zebrastreifen fahren.
Dahinter steckt gemäss Lavoyer auch die Annahme, dass Frauen sexualisierte Gewalt proaktiv verhindern könnten. Würden sie sich bedeckt kleiden, keinen Alkohol trinken, abends nicht ausgehen, nicht im Dunkeln allein nach Hause laufen, dann hätten sie nichts zu befürchten.
Klingt anstrengend? Ist es auch. Und es ist nicht wahr: Sexualisierte Gewalt lässt sich nicht durch ein «korrekteres» oder «besseres» Verhalten der Betroffenen verhindern. Nicht durch den Schlüsselbund in der Hand, das Telefonat mit der Freundin oder durch Produkte wie Schutz-Unterwäsche oder K.O.-Tropfen-Tests, mit denen Frauen falsche Sicherheit vermittelt wird. Die Frauen entscheiden schliesslich nicht über das unberechenbare Verhalten einer anderen Person.
Die bittere Wahrheit über die «Rape Culture» lautet: Egal was eine Frau tut oder nicht tut, sie kann sexualisierte Gewalt erleben.
Fokus auf diejenigen, die sich übergriffig verhalten
Lavoyer prangert in ihrem Buch an, dass wir uns viel zu sehr darauf konzentrieren, was das Opfer falsch gemacht hat oder was es besser machen könnte.
Stattdessen sollten wir grundsätzlich darüber reden, wie Männer auf die Idee kommen, sie hätten ein Anrecht auf Sex oder den Körper eines Gegenübers.
Wie es dazu kommt, dass Männer grenzverletzendes Verhalten als legitim empfinden. Warum manche denken, Frauen fänden es erregend oder ein Kompliment, wenn man ihnen im Club ungefragt an den Hintern fasst oder ihnen im beruflichen Kontext «Guten Morgen schöne Frau» im E-Mail schreibt.
Schluss mit den Mythen zu sexualisierter Gewalt
Mit ihrem Buch zeigt Lavoyer auf, welche Stereotypen rund um sexualisierte Gewalt es gibt, wie das Schweizer Rechtssystem damit umgeht, wie unsere Sprache, die Art und Weise, wie Zeitungen darüber schreiben und die Popkultur das Verständnis von und den Umgang mit Sex, Sexualität und sexualisierter Gewalt prägen. Erschreckend ist insbesondere der juristische Teil des Buches, der zeigt, wie weit Recht und Gerechtigkeit auseinanderliegen.
So sprach das etwa Landgericht Köln 2018 einen Mann von der Vergewaltigung seiner Frau frei. Die Begründung war die fehlende Glaubhaftigkeit des Opfers: Die Frau hatte zu detailliert, strukturiert und reflektiert ausgesagt und zu wenig Gefühle gezeigt. Ausserdem hätte sie ihren Mann erst Jahre später angezeigt.
In einem weiteren Urteil von 2016 argumentierte das Zürcher Obergericht mit Grösse und Gewicht von Täter und Opfer: Die Teenagerin hatte eine ähnliche Statur wie der Täter. Somit sei der Tatbestand der Vergewaltigung nicht erfüllt, weil sie physisch hätte in der Lage sein müssen, sich zu wehren.
Entgegen der Annahme, dass es doch «logisch» wäre, sich zu wehren, den Täter sofort anzuzeigen oder zusammenzubrechen, sobald man darüber spricht, gibt es kein «typisches» Verhalten von Betroffenen sexueller Gewalt, so Lavoyer. Typisch sei lediglich, dass Frauen ihr Verhalten in jedem Fall falsch ausgelegt werden kann und wird:
Sie sind zu emotional oder zu emotionslos, zu traumatisiert oder nicht traumatisiert genug.
Als Frau keine überraschende Lektüre
Als Leserin erschrak ich über mich selbst, wie schulterzuckend und gleichgültig ich viele Passagen las: Vieles an Zahlen/Daten/Fakten erscheint mir so logisch und selbstverständlich, dass ich dachte: «Warum muss das überhaupt noch jemand schreiben?»
Am sinnbildlichsten dazu fand ich Lavoyers Aussage ganz am Ende, als sie über ihre persönliche Geschichte mit sexualisierter Gewalt schreibt:
«Ich weiss nicht, inwiefern die sexualisierte Gewalt, die ich in meinem bisherigen Leben erfahren habe, mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich bin. Weil ich nicht weiss, wer ich in einer gleichberechtigten, gewaltfreien Gesellschaft wäre.»
Männer, lest dieses Buch!
Gleichzeitig frage ich mich, ob es meinen männlichen Kollegen bei der Lektüre ähnlich gehen würde. Ob sie ebenfalls denken würden, dass das doch alles sonnenklar ist und erschreckend, dass man so etwas überhaupt sagen muss.
Manche Männer in meinem Umfeld setzen sich aktiv mit diesem Thema auseinander. Gleichzeitig erlebte ich noch in der Woche, in der ich an diesem Text schrieb, dass ein Mann mich auf dem Weg zur Arbeit anquatschte. Er kam mir sehr nahe, fragte erst nach dem Weg und dann nach meinem Namen. Ich sagte ihm, dass ich zur Arbeit musste und lief davon. Er rief mir durch die Halle nach: «Wie heisst du? Hey! Hey!»
Bis ich im Zug sass, hatte ich noch Angst, dass er mir folgen würde.
Deshalb wünsche ich mir, dass vor allem Männer das Buch lesen und mit anderen Männern darüber reden. Es ist nicht die Aufgabe von Betroffenen, Aufklärungsarbeit zu leisten oder ihr Verhalten anzupassen. Und es wirkt am meisten, wenn Männer andere Männer in die Verantwortung nehmen.
Agota Lavoyer: Jede_ Frau. Yes Publishing 2024.
[1] Catcalling: sexuell anzügliche Gesten oder Bemerkungen in der Öffentlichkeit
Foto von Toa Heftiba auf Unsplash
2 Gedanken zu „Schluss mit Mythen zu sexualisierter Gewalt!“
Toller und wichtiger Beitrag, zu einem Thema, das mich sehr beschäftigt- gerade auch als Mann; gerade eben hat mir eine Coleiterin hier im Konflager erzählt, was im Ausgang so „abgeht“ und sich meine Mitmänner so verhalten- ich bin ziemlich schockiert… ich muss das Buch lesen und in meinem Umfeld (Gemeinde, Unterricht, Synode) irgendwie die Diskussion führen… danke für deine Gedanken und dein Engagement, Fabienne!
Da Fabienne grad im Ausland ist, antworte ich dir schon mal – super, wenn du andere für das Thema sensibilisierst. Liebi Grüess, Evelyne