Less noise – more conversation.

 Lesedauer: 9 Minuten

Liebe ohne Beschränkung

Mit der Auffächerung der Identitäten entstehen auch neue Beziehungsmodelle. Haltungen und Einstellungen ändern sich. Auch Werte werden neu definiert. Junge Menschen teilen heute nicht mehr selbstverständlich die Beziehungsideale ihrer Eltern.

Wir wissen nicht, wohin sich die Gesellschaft und die Liebe in Zukunft entwickeln. Vielleicht entstehen Formen, die wir uns heute noch gar nicht ausmalen können. Vielleicht lieben in Zukunft alle bi oder poly, flexibel oder offen monogam, mehrfach- oder quasitreu. Vielleicht wird es tatsächlich immer bunter.

Wird Monogamie im «bunten Bouquet» (Morning Glory Zell-Ravenheart) der Liebe Platz finden? Das habe ich mich nach der Vorführung des Gewinnerfilms des ökumenischen Filmpreises der Kirchen beim Zürcher Filmfestival ZFF gefragt. Der Film erntete verhaltenen Applaus. (Eine Besprechung des Films «Foudre» der jungen Westschweizerin Carmen Jaquier findet sich hier.)

Ménage à quatre

Dorfjugendliche entdecken ­ – miteinander – ihre Sexualität. Ausser ihrer Lust vereint die Alpenkinder ein dringendes Emanzipationsbedürfnis. Die rigide Sexualmoral in dem katholischen Bergdorf im Wallis zur vorletzten Jahrhundertwende hat etwas verschwitzt Bösartiges. Die Dorfgesellschaft ist nicht bloss lust-, sondern liebes- und lebensfeindlich.

Der fromme Sittenkodex verbietet nicht nur, sondern dämonisiert und verteufelt.

Die jungen Menschen brechen aus oder zerbrechen. Ein schwangeres Mädchen stürzt sich mit einem dramatischen Sprung von einem Wasserfall in den Tod. Zuvor hatte das Mädchen der Reihe nach mit den jungen Männern des Dorfes Liebe gemacht. Und dabei eine allumfassende, entgrenzende, ans Mystische rührende Liebe entdeckt.

Heute scheint genau das andere Extrem vorzuherrschen: Alles ist möglich, alles darf ausprobiert werden, nichts ist verboten (ausser Pädophilie). Aber geniessen wir deswegen mehr?

Kühn an dem Gewinnerfilm ist, wie die schüchtern auftretende Regisseurin historische Verhältnisse und gegenwärtige Fragen kurschliesst. «Foudre» kann man auch als Projektion heutiger Diskussionen um Polyamorie zurück in die Zeit der Urgrossmutter der Regisseurin sehen: die Zeit um 1900. Und zugleich als spannende und spannungsgeladene Übertragung religiöser Fragen auf die säkulare Gegenwart.

Die Hauptfigur, Elisabeth, eine angehende Nonne, verlässt ihr Kloster widerwillig. Zurück im Dorf fahndet sie nach der Todesursache ihrer Schwester und tritt zunehmend trotzig in deren Fussstapfen. Sie liebt, so wird angedeutet, ebenfalls nicht-exklusiv. Eine Schlüsselszene zeigt die Novizin nackt mit drei Jungs auf einer Almwiese.

Eine polyamouröse Revolution?

Dass ein polyamouröses Coming-of-Age-Drama über die Entdeckung und Befreiung von Sexualität und Religiosität mit dem Kirchenpreis geehrt wurde, ist überraschend. Noch überraschender aber ist, dass die mutige Entscheidung der Kirchenpreisjury, der auch ein katholischer und ein reformierter Vertreter angehören, bisher kaum Diskussionen auslöste. Nicht einmal in den sonst so diskutierfreudigen Sozialen Medien.

Ist das Thema Polyamorie etwa schon durch? Oder wird einfach sehr laut und betreten geschwiegen?

Mich hat «Foudre» (Donner) angeregt, meine eigene Haltung zur Liebe zu hinterfragen und zu ergründen, wieso mich die modische Debatte über Polyamorie – im engeren Sinn die Bezeichnung für eine längerfristige Liebe zu mehreren – eher beklommen macht. Neulich beim Abendessen mit Bekannten kam zum Beispiel das Gespräch auf Tinder und anschliessend auf Polyamorie.

Ein Ehepaar, wurden wir informiert, erlebe gerade einen neuen Frühling. Für beide, gut situierte Schweizer Bürger, hätten sich überraschende Gefühlskosmen geöffnet. Die Frau lebe zusätzlich zur Ehe eine lesbische Liebe. Der Mann, als Reaktion, habe sein Liebesleben ebenfalls ausgeweitet und aktuell drei weitere Liebespartnerinnen.

Real gelebte Polyamorie kann merkwürdig traurig, sogar bieder erscheinen.

Dating Apps und Corona Blues

Mit Dating-Apps haben sich die Kontaktmöglichkeiten schier unendlich vervielfältigt. Die Pandemie hat zwar Begegnungsmöglichkeiten beschränkt, aber gleichzeitig bestehende Beziehungen auf harte Proben gestellt und sogar glücklich scheinende Liebe aufgesprengt.

Bei den am Abendessenstisch versammelten Männern herrschte Einigkeit: Die gegenwärtige polyamouröse Revolution geht von den Frauen aus!

Die neue Liebe zu vielen scheint oft von losen, fragilen Bindungen gekennzeichnet zu sein; der Schwierigkeit, im Wechselspiel Verbindlichkeit zu schaffen.

Schwierig wird es, wo die Lust der einen das Leid der anderen ist. Wer im Elternhaus gekränkte Liebe in Folge ehelicher Untreue oder Fremdverliebtseins erlebt hat, empfindet womöglich schon den Vorschlag des Partners, die Beziehung zu öffnen, als retraumatisierend.

Ich ertappe mich in letzter Zeit gehäuft bei Aussagen wie: «Ich bin halt eine Romantikerin» oder auch: «Ich bin eine hoffnungslose Romantikerin». Fast als stünde ich als monogam Liebende unter Rechtfertigungsdruck.

Verglichen mit fluidem Beziehungsanarchismus sehen Monogame natürlich alt aus. Was haben wir zu bieten? Treueversprechen, Pflege einer verbindlichen Vertrauensbasis, das Versprechen für den geliebten Menschen mit ganzem Herzen und ganzer Seele da zu sein; auch, wenn etwa aufgrund von Krankheit ein aufregendes sexuelles Leben miteinander nicht mehr möglich ist; den Wunsch, mit dem Ehepartner alt zu werden. Alles zugegebenermassen nicht so aufregend.

Liebe ohne Teilnahmebeschränkung

Erstaunlich an dem Abendmahlgespräch war, dass die Betroffenen Ü50 sind. Das Ehepaar, von dem die Rede war, hat gemeinsam Kinder grossgezogen. Dass junge Leute immer selbstverständlicher jenseits klassischer monogamer Normen leben, berichten dagegen Medien und belegen Studien hinlänglich.

Eine im Vorjahr publizierte Umfrage zum Beziehungsverhalten hat für die Schweiz ermittelt, das 61 Prozent der 18- bis 25-Jährigen der Ansicht sind, nicht-monogame Beziehungsformen wie Polyamorie würden in Zukunft normal und akzeptiert sein.

Die Generation Tinder ist offen für multiple sexuelle und emotionale Erfahrungen und flexible Beziehungsmodelle. Und in diesem Punkt wohl der Hippiegeneration näher als ihren Boomer-Eltern. Gerade die Polyamorie ist bei Jüngeren, nebst der Identitätsfrage, ein Riesenthema.

Dass nicht nur Polyamorie, sondern auch glücklich gelebte Monogamie grosse Energie freisetzen kann und Liebende reifen lässt, muss man inzwischen eigens betonen, weil es gern unterschlagen wird.

Nicht-monogame Liebe ist nicht neu. Der Kulturkampf gegen sogenannte Mononormativität jedoch schon. Die seit dem 18. und verstärkt seit dem 19. Jahrhundert in bürgerlichen kapitalistischen und christlichen Gesellschaften als Norm durchgesetzte Monogamie ist zu einer Art Chiffre geworden: für eine einengende, ja kolonisierende Normalisierung und Kastrierung alternativer Liebesformen.

Welchen Platz hat Monogamie in der neosexuellen Welt?

Viele Menschen leben nach wie vor monogam und Treue ist für die allermeisten von uns ein hohes Gut.

Der monogamen Liebe liegt im Unterschied zu polyamourösen Formen die Idee zugrunde, dass ich nicht nur für meine Gefühle verantwortlich bin. Das monogame Beziehungsmodell setzt reife Bindungsfähigkeit voraus und kommt demjenigen entgegen, was in der Psychologie als menschliches Grundbedürfnis nach Geborgenheit und bedingungslosem Geliebtwerden bezeichnet wird.

Wer Grundbedürfnisse übergeht oder verleugnet, läuft potenziell in die Gefahr der Selbstverleugnung und sogar der schweren seelischen Verwundung.

Im Kampf um Anerkennung muss Monogamie oft als Negativfolie zu alternativen Formen herhalten; so als sei Monogamie per se unterdrückend, wo es doch die Kultur ist, die normiert.

Das monogame Beziehungsmodell unterliegt Abwertungen, und zwar von zwei Seiten. Im aktivistischen Kampf für Modern Love und gegen sogenannte Mononormativität ist Polyamorie ein Gegen- und Abgrenzungsbegriff zu Monogamie. Ziel ist die Entstigmatisierung diverser und queerer Beziehungsformen.

Den Neologismus Polyamorie gibt es noch nicht so lange. 2006 wurde er ins Oxford English Dictionary aufgenommen. Laut der Sexualforscherin Jana Haskamp («Ein ethnologischer Blick auf Polyamorie») handelt es sich bei Polyamorie um ein «westliches Konzept».

Treue als lebenslange Fussfessel?

Zum anderen gibt es eine einflussreiche beziehungspsychologische Argumentation, nach der «exklusives» Liebesbedürfnis Ausdruck eines tendenziellen Mangels an Freiheit sei und eine Unfähigkeit, den anderen freizulassen.

Liebe basiere auf Ehrlichkeit zueinander, nicht auf Exklusivität, heisst es. Das leuchtet ein. Aber mangelt mir tatsächlich Toleranz oder fehlt mir Grosszügigkeit, wenn ich trotzdem exklusiv lieben und geliebt werden möchte?

Liebe werde oft mit Besitzenwollen verwechselt und Romantiker seien naiv und würden ihre Liebespartner mit masslosen Erwartungen überfrachten, wird argumentiert. Und es stimmt ja auch: Hinter dem, was wir Romantik nennen, können sich auch Abhängigkeit und sogar versteckte Gewalt verbergen.

Nicht nur die normative Freiheit wird gegen Mononormativität in Stellung gebracht, sondern auch die Sachlage: Monogam sei der Mensch, und v.a. der Mann, nicht geschaffen worden. Und monogam habe die Menschheit die längste Zeit, zumal ausserhalb Europas und vor der kolonialen und christlichen Normierung, auch nicht gelebt.

Sukzessive Polygamie der Bibel

Selbst die Religionsgeschichte liefert Argumente: Patriarchen wie Abraham, Salomon oder David hatten bekanntlich mehrere bis viele Frauen. Die Vielehe etwa im Mormonismus eröffnet durchaus auch Frauen Spielräume, v.a. weil die zeitraubende Nachwuchsversorgung im Haushalt auf mehrere Schultern verteilt wird.

Joseph Smith, der Begründer des Mormonentums, rechtfertigte die Einführung der Vielehe mit Verweis auf die spezielle Situation der «Endzeit» und auf Lukas 20,29ff: die Stelle mit der Frau, die sieben Brüder ehelicht. Nach heutigen Massstäben lebte die Frau eine sukzessive oder serielle Polygamie.

Die Glaubensgemeinschaft der Shaker begründete mit derselben Bibelstelle ein nahezu zöllibatäres Familienleben. Auch diese Interpretation ist möglich.

Jesus wurde zum Schicksal der acht Eheleute nach der Auferstehung gefragt. Seine Antwort lässt offen, ob die acht auferstehen. Aber wenn sie auferstehen, dann nicht als Kommune. Lukas 20,34:

«Die Kinder dieser Welt freien und lassen sich freien; welche aber würdig sein werden, jene Welt zu erlangen und die Auferstehung von den Toten, die werden weder freien noch sich freien lassen.»

Radikal liebend und radikal religiös

Offene Beziehungsformen, vor allem wenn sie über längere Zeiträume währen, haben einen hohen Kommunikations- und Aushandlungsbedarf. Das mit ihnen verbundene Gefühlskarussell ist gewiss nicht jedermanns Sache. Der Theologe Karl Barth und seine Partnerinnen konnten ein Lied davon singen.

Keimt Eifersucht auf, wird diese in der neuen polyamorösen Welt als Sparringpartner begrüsst: um innerlich unabhängiger zu werden. Die Art und das Ausmass des sexuellen Nomadentums wird heute in zum Teil ausgefeilten Verträgen festgelegt. Ohne Normativität kommt auch freie Liebe nicht aus.

So weit aber sind die jungen Menschen in dem jetzt mit dem Filmpreis der Kirchen geehrten Drama nicht. Sie entdecken gerade erst ihre körperliche Lust. Und geniessen wohl auch die Übertretung sexueller Ver- und heteronormativer Gebote.

Die Liebenden meinen, in den Augen ihrer Liebespartner Gott zu schauen.

Der Schluss bleibt offen.

Vielleicht kündigt sich in «Foudre» eine neue Romantik an: radikal liebend und radikal religiös? Es ist jedenfalls ein Gewinnerfilm, mit dem man nicht so schnell fertig wird: weil er höchst ambivalent ist und ambivalente Gefühle auslöst. Eine Befreiungsgeschiche, die unklar lässt, wohin die Freiheit führt.

Wir wissen nicht, wie es mit der Liebe weitergeht. Dass sich mit der Liebe aber auch religiöse Vorstellungen wandeln, ist gewiss.

Der Trailer von «Foudre», dem Gewinnerfilm des ökumenischen Filmpreises der Kirchen beim Zürcher Filmfestival ZFF 2022, findet sich hier.

In der Programmsektion thematisiert übrigens das ZFF in diesem Jahr unter #MyReligion Filme zum Thema Glauben, moderne Gottheiten und neue Gesellschaftsaltare.

Ein Podcast der RefLab-Reihe Stammtisch mit dem Filmpreisjurymitglied Andrea Bianca (stellv. Kirchenratspräsident der Reformierten Landeskirche Zürich) über den Gewinnerfilm «Foudre» findet sich hier.

Bischof Joseph Maria Bonnemain kommentiert «Foudre»: «Die verhaltene Reaktion des Publikums am Ende des Filmes anlässlich der Preisverleihung war, nach meiner Ansicht, Ausdruck des Zwiespalts der Gefühle, welche dieser ernstzunehmende Film hinterlässt. Einem christlichen Glauben, der die Menschen gefangen hält und hemmend wirkt, folgt nicht eine liebesbejahende, reife Gottesbeziehung, sondern es bleibt ein Fragezeichen. Dieses kann man als Zuversicht, aber auch als leisen Nihilismus deuten.»

Meine Kollegin Evelyne Baumberger behandelte das Thema «Monogamie, ein Auslaufmodel?» in ihrem sehenswerten Vlog. Zu Selbsterfahrungen mit der Beziehungsapp Tinder als Spiegel des Innersten  veröffentlichte Leela Suter ebenfalls bei RefLab kürzlich eine Serie von Blogbeiträgen.

Foto: Filmstill aus «Foudre» der Regisseurin Carmen Jaquier, Quelle: ZFF.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

RefLab regelmässig in deiner Mailbox

RefLab-Newsletter
Podcasts, Blogs und Videos, alle 2 Wochen
Blog-Updates
nur Blogartikel, alle 2 bis 3 Tage