Im Advent des Jahres 1535 machen die Genfer einen kernigen Spruch zu ihrer Devise und setzen ihn mutig ins Wappen der Stadt:
«Post tenebras lux.» Nach der Dunkelheit (kommt das) Licht!
Das Motto ist eingemeisselt in die Mauer der Reformatoren in Genf. Eine erstaunliche Selbstbeschreibung. Auch andere Führungspersönlichkeiten der protestantischen Reformation drücken mit diesen Worten voll Dank aus, was ihnen zugefallen und geschenkt worden ist.
Gesunde (Selbst)Begeisterung
Sich selbst im Licht sehen und auf die überwundene Dunkelheit zurückschauen? Sich als Teil einer Bewegung erkennen, die das Licht in ihrer Zeit wieder anknipst? Das geht wohl nicht ohne ein gehöriges Mass an (Selbst)Begeisterung. Ich finde sie kerngesund und hätte gerne mehr davon für unseren Glauben und unser Kirchesein.
Leuchtende Selbstbeschreibungen
Bei anderen finden wir sie doch auch. Die antike Philosophie versteht ihren Erkenntnisweg zur Wahrheit als Übergang von der Finsternis ins Licht. Die Aufklärung will Licht und Klarheit bringen, was im englischen «enlightenment» besonders hörbar ist. Und auch die ersten Christen bezeugen das, was die Ankunft des göttlichen Lichts mit ihnen gemacht hat, so:
«Aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen» (1Petrus 2,9).
Zögern … 500 Jahre später
Und doch zögere ich, Weihnachten 2022 unter dem Motto «Vom Dunkel ins Licht» zu feiern. Beim Versuch, mir dieses Zögern zu erklären, bin ich an der Metapher «Licht und Finsternis» hängengeblieben. Sie funktioniert auf der Basis eines strengen Dualismus. Das führt zu grundsätzlichen Scheidungen, wenn es etwa um menschliche Existenz, Erkenntnisfähigkeit, Moral oder auch Weltanschauung geht.
Mühelos dualistisch
Sie könnten als Leser:in vermutlich rasch die lichten Stichworte notieren, die das Gegenteil zu den folgenden, finsteren Stichworten markieren. Dunkelheit als:
Kälte, Verlassenheit, Angst, Ausgeliefertsein und Depression …
Unwissenheit, Irrtum, Lüge, Täuschung und Verblendung …
Orientierungs-, Sinn- und Hoffnungslosigkeit …
Verstrickung, Sucht, Selbstverfehlung, Ungerechtigkeit, Hass …
Chaos, Krieg, Leiden, Tod, Böses …
Auf welcher Seite des Dualismus sehe ich mich?
Bemerkenswert, wie die Gegensatzmetapher von Licht und Finsternis uns helfen kann, unmenschliche und lebenszerstörende Prozesse, Strukturen oder Umstände aufzudecken. Aber Achtung:
Wer dualistische Denkformen anwendet, steht leicht in der Gefahr, dies einseitig vom positiven, lichtvollen Standpunkt aus zu tun. Das macht was mit der Weihnachtsbotschaft vom Licht.
Die sich im Licht wähnen
Wo über das empfangene Licht dankbar gestaunt und sich neugierig verwundert wird, da feiert man Weihnachten in heiliger Begeisterung.
Wo aber die eigene (Glaubens)Identität lichtvoll konstruiert wird, indem man die anderen schwarzmalt, ihre Dunkelheit hervorhebt oder verteufelt, da gehen irgendwann alle Lichter aus.
Denn wer sich so selbstsicher auf der Seite Gottes und des Lichts verortet, wird blind für die vielen Lichter in der Welt und ihrer Menschen. Zugleich bleiben die düsteren Flecken des eigenen Lebens im Dunkel verborgen.
Ein theologischer Tipp in die richtige Richtung
Wie man die Lichtmetapher gebrauchen kann, ohne dieser Gefahr zu erliegen, hat der katholische Theologe Karl Rahner einmal so formuliert:
«Der Christ weiß: Das Morgenlicht auf den Bergen ist der Anfang des Tages in den Tälern, nicht der Tag oben, der die Nacht unten richtet.»
Die sich im Dunkel fühlen
Wäre es hilfreich, wenn wir die Richtung umdrehen würden auf «Vom Licht ins Dunkel»? Damit würden wir der adventlichen Selbstbewegung Gottes zu uns nach-denken. Die Eigenperspektive klingt dann so: «Das Volk, das in der Finsternis geht, hat ein grosses Licht gesehen, die im Land tiefsten Dunkels leben, über ihnen ist ein Licht aufgestrahlt» (Jesaja 9,1).
Wenn es stimmt, dass Gott unser Leben samt seinen Schattenseiten mit uns teilt, dann wäre das der göttliche Weichmacher für den starren Dualismus.
Zu dieser Theologie passen Erfahrungen, die sich in das Schema «Licht = gut/Finsternis = schlecht» nicht integrieren lassen. Ausgerechnet die Dunkelheit in der Weihnachtszeit scheint solche Erfahrungen zu begünstigen. In ihnen schöpfen wir Hoffnung.
Einhüllendes Dunkel
Eines meiner Lieblingsadventslieder stammt von Jochen Klepper: «Die Nacht ist vorgedrungen.» Mit ihm habe ich die Dunkelheit liebgewonnen. Wie eine Decke, die mich umhüllt und vor dem entblössenden Licht schützt.
Hier, in der düsteren Kirche, sieht und hört mich niemand. Vielleicht noch nicht mal Gott. Weil er weiss, wie sehr ich das Alleinsein gerade brauche, steht er draussen und bewacht meinen dunklen Raum, damit auch ja niemand reinlatscht.
Und die Nacht, in der ich sitze, lässt mich meine eigene Nacht aushalten. In ungeschminkter Klarheit bin ich bei mir und orientiere mich. Licht wäre jetzt eher Verschmutzung.
Zartes Licht
«Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt», dichtet Klepper. Und Salomo meint bei der Einweihung des Tempels: «Der HERR hat gesagt, dass er wohnen will im Wolkendunkel» (1. Könige 8,12). Diese auf uns zukommende Gegenwart Gottes symbolisiert sich für mich besonders schön in den gedimmten Lichtern und Kerzen eines ansonst dunklen Raumes. Sie setzt mich in eine äussere oder innere Bewegung zum Licht hin.
Wäre das Licht der Welt ein Flutlichtmast, würde es mich weder so locken, noch mir ein leises „Ja“ zum Leben entlocken.
Blendendes Licht
Mir scheint, als würde sich das Licht Gottes unseren Verhältnissen anpassen. Bei Nacht eine Feuersäule, bei Tag ein Wolkendunkel, so erlebt es das Volk Gottes in der Wüste jedenfalls (2Mose 13,21). Aber es kann auch unangenehm werden. Eine der rätselhaftesten Erfahrungen mit dem göttlichen Licht berichtet die mystische Theologie. «Die dunkle Nacht der Seele» wird für Johannes vom Kreuz hervorgerufen durch die alles blendende und durchdunkelnde Leuchtkraft des Gotteslichtes. Ich habe diese aufschreckende Erinnerung immer mal wieder nötig:
Die unverfügbare Eigenwirklichkeit Gottes entzieht sich jedem Zugriff. Gerade dadurch hält der hinter seinem Licht Verborgene meine Gottesvorstellung dynamisch.
«… in deinem Licht schauen wir das Licht»
Wir könnten nichts in dieser Welt sehen, wären wir nicht mit allen Kreaturen immer schon eingetaucht in Licht und von ihm durchdrungen. Licht und Leben gehören untrennbar zusammen. Johannes versteht in seinem Evangelium Jesus Christus als Licht der Welt, als Leben und Licht der Menschen (Johannes 1,4; 8,12).
An Weihnachten feiern wir Gott als Licht, das wir nicht nur in der Dunkelheit sehen, sondern in dem und durch das wir sehen. Eine Art Medium unserer Selbst- und Weltwahrnehmung.
Gott teilt sein Licht verschwenderisch mit uns und will nicht der einzige sein, der sich voll Glaube, Liebe und Hoffnung in der Welt umsieht.
Sind diese drei nicht gerade im Jahr 2022 die Lichter, die wir selbst nicht herbeileuchten können? Wenn dem so ist, stehe ich zur Erlösungsbedürftigkeit meiner Augen und freue mich mit vielen anderen über jede noch so kleine Erleuchtung.
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10 Gedanken zu „Licht und Dunkel“
Wer dualistische Denkformen recht und richtig anwendet, tut dies von einem dritten Standpunkt aus. (der in der Tradition christlicher Theologie mit der Vokabel “Gott” codiert wird.) Dann löst sich selbst und gerade die Gefahr, dies einseitig vom positiven, lichtvollen Standpunkt aus zu tun, buchstäblich in Luft auf. DAS macht was mit der Weihnachtsbotschaft vom Licht. Das macht was in der Tat mit der Weihnachtsbotschaft vom Licht. Das macht was in Tat und Wahrheit mit der Weihnachtsbotschaft vom Licht.
Frohe und erleuchtete Weihnachten!
Dir, Andreas, und allen Lesern. LG, Reiner
Danke, ein schöner Wunsch, der mindestens noch so lange gilt, wie die Weihnachtszeit währt.
Danke für diesen Kommentar. Wenn ich versuche, entlang der darin gelegten Linien mitzudenken, zögere ich allerdings, einen göttlichen Standpunkt einzunehmen. Den habe ich nicht. Und ich fürchte zu sehr, dass ich dabei wieder in die alten Fallen tappe und meine, klare Linien ziehen, Abgrenzungen vornehmen und Urteile fällen zu können. Ich meine, dass Jesus Christus mit der Verflüssigung des Gott-Mensch/Welt Dualismus jedes dualistische Denken liebevoll in Frage stellt.
In dem Zusammenhang auch: Was war das wohl, was um den Engel in Bethlehem geleuchtet hat?
Im Krippenspiel ist es manchmal ein plötzlicher heller Scheinwerfer …
Im Bibeltext steht je nach Übersetzung Klarheit, Glanz, Herrlichkeit – und ich finde, das passt nicht zu grellem Scheinwerfer (und ein überbelichtet Foto ist ja auch nicht unbedingt so klar).
Also glitzernd? Warm? geheimnisvoll? In allen Farben schillernd …?
Danke für diese schöne Weiterführung und Vertiefung. Ich glaube, auf diese Weise kommen wir dem Geheimnis näher. Das göttliche Licht weniger als Lux und Lumen, sondern als Klarheit, Glanz und Herrlichkeit von anderer Qualität. Was dazu wohl die Lichttechniker sagen?
Wie immer bei den Texten von dir Andi, lohnt es sich den vorliegenden Text mehrmals zu lesen, wirklich lesen oder zu kauen. Der Leser merkt, dass du mit diesem und den anderen Texten “schwanger gegangen bist”. Vielen Dank, dass du so Anteil gibnst an deinem persönlichen geistlichen und praktischen Leben!
Das freut mich sehr, wenn meine Versuche, Theologie und (eigene) Spiritualität zu verweben, so aufgenommen und erwidert werden.
Vielen Dank Andy für diesen wundervoll tiefen, von innen leuchtenden und wärmenden, Erhellendes und zart Umschattendes in Beziehung setzenden mystischen Text.
Ein enorm ermutigendes Feedback, danke von Herzen. Denn oft denke ich, dass ein kurzer Text mit limitierter Zeichenzahl die Tiefe nicht erreicht. Zumindest, wenn ich ihn schreibe. Und wahrscheinlich bin ich mehr Mystiker als ich bisher erkannt habe. Schön, wenn andere einem da auf die Sprünge helfen.