Während die Themen der letzten Jahre eher Botschaften nach aussen waren, richtet sich das Motto der diesjährigen Pride, «Lass uns darüber reden», an die Community.
Oder sollte ich sagen, die «Communities» im Plural, die diese ausmachen?
Wer als aussenstehende Person an die queere Community denkt, denkt vermutlich an eine einzige Gemeinschaft, so als einen grossen, bunten Block. Mir erscheint die grosse Regenbogenfamilie aber vielmehr als eine Familie von mehreren Communities, die wiederum aus verschiedenen kleineren Gruppen bestehen.
Dass da immer wieder Dialog notwendig ist, versteht sich von selbst. Hier treffen viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Geschichten, Sensibilitäten und Bedürfnissen aufeinander.
Identitäten sind plural
Viele der Gruppen haben ihre eigene bewegte Geschichte als Community, die beim jeweiligen Dialog noch mitschwingt. Und manche Menschen gehören gleich zu mehreren Gruppen: Ich bin zum Beispiel zuerst Two-Spirit (Selbstbezeichnung indigener Personen ausserhalb des binären Gendersystems). Aber ich bin auch intergeschlechtlich, trans, neurodivers und afro-indigenous.
Welcher Community gehöre ich an?
Die «grosse Community» ist plural, und unsere Identitäten sind es auch oft.
Da ist es normal, dass sich manchmal manches aneinander reibt. «Wo Menschen sind, da menschelt’s», sagt meine Mutter. Wichtig ist, dass einander zugehört wird und dass wir in einen Dialog kommen.
Dies gilt ebenso für das Miteinander zwischen queerer Community und nicht-queerer Umwelt.
Angst vor dem Unbekannten
Gerade im heutigen gesellschaftlichen und politischen Klima, wo bestimmte Kräfte, Parteien, Politiker:innen und Gruppierungen konstant Druck und Stimmung gegen queere Menschen und insbesondere trans Menschen machen [1], sind Dialog, Kennenlernen und Zusammenhalt wichtig.
Es ist einfacher, etwas gegen Menschen zu haben, solange diese nur eine gesichtslose, nebulöse Gruppe bleiben. «Die LBGTQ-Community», die «Trans-Aktivisten»… sobald diese Menschen aber ein Gesicht bekommen, von ihren Geschichten erzählen, es zum Dialog kommt, kann Vertrauen entstehen und vieles sich ändern.
Das wünsche ich mir – innerhalb der queeren Community, und innerhalb der Gesellschaft. Verständnis für die gegenseitigen Anliegen und Bedürfnisse aufbringen.
Feindbilder abbauen, um dem Rechtsruck Wind aus den Segeln zu nehmen, bzw. die Ängste und zerstörerischen Ideen zu entkräften: Menschen haben oft Angst vor dem, was sie nicht kennen und verstehen. [2]
Mein persönlicher Dialog
«Lass uns darüber reden». Wie kann so ein Dialog beginnen? Ich persönlich starte ihn oft auf Social Media, aber auch offline. Zudem studiere ich Theologie, um ins reformierte Pfarramt zu gehen.
Ich bin auf Instagram und TikTok und mache dort Aufklärung und Aktivismus. Mal kürzer, mal länger, kommt es deswegen immer wieder zum Dialog.
Manchmal ergibt sich Gutes oder sogar Überraschendes: So wollte kürzlich eine AfD-Person wissen, warum ich «gebärende Person» sage.
Ich erklärte ihr, dass dieser Ausdruck nicht das Wort «Mutter» ersetzen soll, das so viel beinhaltet. Menschen können Mütter sein oder mütterliche Rollen übernehmen, ohne geboren zu haben; Mutter sein ist weit mehr, als nur zu gebären, und ich würde meine Mutter oder meine Grossmutter nie als «gebärende Person bezeichnen. Dieser Ausdruck ist für Menschen, die Kinder gebären können, sich aber nicht als «Mutter» identifizieren können, zum Beispiel nicht-binäre Personen oder trans Männer.
Am Ende unseres Chats fand die andere Person, dass das ja eigentlich kein Problem und sogar gut sei. Die Bereitschaft zum Dialog und zum Zuhören ermöglicht solche Begegnungen.
Menschen erzählen von Angst und Sprachlosigkeit
Dialog braucht es auch innerhalb der Community. Wenn von dort abwertende Bemerkungen kommen, schmerzt mich das am meisten. Etwa in Zusammenhang mit trans oder Drag die Aussage: «Ich als schwuler Mann schäme mich für euch». Das sticht.
Auch da habe ich versucht, zuzuhören: warum? Was stört dich? Alles ändern kann ich nicht, und mich anderen zuliebe ändern auch nicht.
Aber wenn ich will, dass andere mir zuhören, dann erweise ich ihnen auch diese Ehre.
Menschen höre ich auch bei mir zu Hause zu, wenn ich sie schminke. Ich bin Makeup Artist. Ein aktives Zuhören, und ich höre dabei so viel.
Menschen kommen zu mir und erzählen mir von ihrer Angst. Von ihrer Wut. Von ihrer Sprachlosigkeit.
Aber vor allem von der Angst, die umgeht. Weil wir sind, wer wir sind, und lieben, wen wir lieben. Was tangiert das Arbeitskolleg:innen, Nachbarn, Passant:innen, Menschen, die wir gar nicht kennen?
Und dennoch wird immer wieder unsere Existenz in Frage gestellt – ob es uns geben soll, darf, ob es «uns ausgetrieben werden soll», ob Menschen wie ich weggesperrt, verboten, zum Schweigen gebracht und gänzlich unsichtbar gemacht werden sollen.
Von Kirche und Hoffnung und Menschen
Gerade in einer Gesellschaft, in der die Kirche zwar dabei ist, in eine Minderheitsposition zu geraten, aber dennoch Ansehen und Gehör besitzt, ist und bleibt auch ihre Stimme wichtig. Menschen sehen, hören, warten darauf.
Es ist der Auftrag der Kirche, sich für die Schwachen stark zu machen, Stimme zu sein, gegen Gewalt zu stehen.
Und wir trans Menschen, queere Menschen, wir gehören zu denen, denen Gewalt geschieht. Jeden Tag.
Die Abwertung fängt durch Blicke und Worte an – auf Facebook, Twitter, Tiktok, durch Privatnachrichten auf Telefon und im Briefkasten – , geht mit Mobbing weiter und entlädt sich oft sogar in körperlicher Gewalt.
Es gibt hier und da Menschen, die sich für uns einsetzen, die uns zuhören. Und wir sind stark. Wir sind nicht schwach.
Aber man wünscht sich, nicht so verdammt stark sein zu müssen. Einfach nur leben zu können, voller Freude und Liebe.
Die Menschen, denen ich begegne, haben viel zu erzählen. Über ihre Ängste in dieser Zeit, ihre Sorgen; aber auch, was ihnen Hoffnung gibt und Kraft.
Da ist die Hoffnung, dass wir eines Tages alle einfach nur leben können, leben und lieben, und glücklich sein, so wie wir sind – ganz egal ob homo, bi oder hetero, intergeschlechtlich, trans oder cis. Alle zusammen, eine Gesellschaft, eine Welt, in Frieden.
Nur wenn alle frei sind, sind wir wirklich frei
Befreit, im Licht des Evangeliums. Solidarisch, getragen durch die Solidarität anderer. Nur wenn alle frei sind, sind wir wirklich frei.
Lasst uns alle einfach Menschen sein, alle gleich würdig, gleich geliebt, einzig-artig, wundervoll und wertvoll in allen Facetten ihrer Identitäten – bunt schillernd, alles Menschen, von Geistkraft erfüllt.
Ich bin dankbar gegenüber der Quelle des Lebens, der Liebenden, Gott. Gott gab mir das Leben, so wie ich bin, dass ich bis jetzt leben durfte und jeden Tag wieder neu aufstehen darf: voll Liebe, voll Trotz, voll Humor. Manchmal ist letzterer etwas schwarz, aber er ist immer da.
Wir sind nicht unsichtbar
Lasst uns darüber reden.
Lasst uns miteinander reden.
Wir schaffen das.
Wir lieben.
Wir gehen vorwärts, alle zusammen.
Wir schaffen das.
Nein, nicht alles ist schlecht.
Ich sehe so viel Liebe, und kleine Wunder überall.
Das Leben ist schön und wertvoll.
Liebe…
Wir schaffen das.
Wir sind nicht unsichtbar.
Text und Bild: Ari Lee (er/sie). Ari ist Makeup Artist, Autor:in und studiert zurzeit Theologie im Masterstudium in Bern. Ari engagiert sich in der reformierten Kirche, im Queer-Aktivismus und auch gegen Rassismus.
Auf Ari Lees Website kann die ungekürzte Version dieses Textes nachgelesen werden, den er für den RefLab-Blog verfasst hat.
[1] Die Geschichte vom Gendertag in Stäfa ist bekannt. Im Kanton Genf versucht die SVP gerade, einen Gesetzesvorschlag durchzubringen, um jegliche Transitionsmassnahmen für Minderjährige zu verbieten, angefangen bei Pubertätsblockern. Dies, obwohl bekannt ist, dass diese Massnahmen nachweislich Leid mindern und Suizid verhindern können. Nicht-Binäre Menschen werden vom Parlament nicht anerkannt und die Gewalt an queeren Menschen in der Schweiz ist letztes Jahr stark gestiegen.
[2] Wo diese Art Politik und Propaganda hinführt, sieht man in den USA: Unter dem Vorwand des «Kinderschutzes» erhalten auch erwachsene trans Personen keinen Zugang zu ihren Medikamenten mehr, in Florida dürfen Ärzte queeren Menschen die Hilfe verweigern und die Human Rights Watch hat den nationalen humanitären Notstand für LGBT-Personen in den USA ausgerufen. Für LGBT-Personen und POC (Persons of Color) besteht eine Reisewarnung für Florida. Konservative haben einen imaginären Feind geschaffen, der angeblich die Ordnung und das Land bedroht, anstatt sich um wirkliche Probleme zu kümmern.