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Kultur der Lust ohne Christentum

Woran hängt dein Herz?

Nicht nur die Sexualität, auch das Lachen, das Spiel, die verschiedenen Schauspiele, die Musik und die bildende Kunst waren im Laufe der Christentumsgeschichte immer wieder verdächtig beäugt bis abgewertet worden. Warum? Weil im Spiel, beim Schauspiel, beim Lachen, im sexuellen (Selbst-)Austausch der Mensch ganz in seinem Körper und bei sich ist, ja sich quasi im Moment selbst genügt. Er braucht dabei nicht noch einen weiteren Referenten, z.B. eben Gott.

Auch in Martin Luthers berühmten Götzenkritik-Formulierung „Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“, steckt dieses tiefe Misstrauen gegenüber menschlichen Freuden und Anhänglichkeiten, die aus Lust und als pure Freude genossen werden und nicht quasi noch eine transzendente, pädagogisch-didaktische Verweisfunktion haben: Musik ja, aber als Hinführung zum Mysterium, Kunst ja, aber als Versinnbildlichung einer höheren Wahrheit, Sexualität ja, aber zum Zweck der Zeugung von Kindern und als Ausdruck einer letztlich als Gottes Geschöpf geschenkten Liebe.

Selbst das alttestamentliche Hohelied wurde in der christlichen Exegese konsequent spiritualisiert und die Versuche der Reerotisierung des Textes blieben in der Breite erfolglos.

Vielmehr stand und steht die körperliche Lust im christlichen Körperdiskurs in all ihren Ausprägungen immer auch unter dem Vorbehalt des reinen Selbstgenusses und da wittern Theologen (weniger Theologinnen) sofort die Sünde des in sich gekrümmten, selbstbezogenen Menschen (homo incurvatus in se ipsum); auch die liberale Tradition des Protestantismus geht hier prinzipiell keine anderen Wege.

Kultur der Lust

Freilich ist Lust als solche nicht einfach gut, vielmehr hat die Lust in allen ihren Facetten auch ein hohes destruktives Potential und muss entsprechend kultiviert werden, um nicht in totaler Orientierungslosigkeit, illegitimer (Auto-)Gewalt und unfreiwilliger Sucht aufzugehen. Aber dies geschieht nicht dadurch, dass die Lust in irgendeiner Weise dämonisiert und ausschliesslich problematisiert wird, sondern im Gegenteil: dass sie als solche zuerst einmal wahr- wie angenommen und nach einem kreativen wie produktiven Umgang mit ihr gesucht wird. Dabei gilt es nicht zu moralisieren, sondern frei nach Kant ist von der ethischen und ebenso freiheitlichen wie in die Verantwortung nehmenden Maxime auszugehen: «Wie du willst, dass man deine Bedürfnisse und Interessen berücksichtigt, so berücksichtige auch die Bedürfnisse und Interessen der Anderen.» Innerhalb dieses Rahmens liegt viel individueller, freiheitlicher und experimenteller Spielraum für eine je eigene Kultur der Lust in Bezug auf Körper, Rolle und Sexualität.

Dekonstruktionen

Die christliche Tradition hat zu einer solchen reflexiven Lust- und Experimentierkultur in Bezug auf Körper, Rolle und Geschlecht keinen konstruktiven Beitrag (ich bezweifle, dass dies überhaupt eine religiöse Tradition hat). Selbst der breite christliche Liebes- und Schöpfungsdiskurs (und die davon abgeleitete Würde) steht sich immer wieder selbst im Weg, da er die ambivalente Kraft der Lust nicht wirklich integriert hat.

Vielmehr wird aus der Lust an der Erkenntnis unter theologischer Männerhand das hartnäckige Rollenbild der Frau als Verführerin, die sexuelle Lust wird in einen engen Konnex mit der Erbsünde gebracht, der Verzicht auf und die Eindämmung der sexuellen Lust zur Voraussetzung gottgefälligen Lebens, die erotischen Fantasien und körperlichen Anlehnungsbedürfnisse in schwülstige, mystische Christusbraut-Mystik sublimiert; entsprechende Körper- und Rollenbilder sind Asketinnen und Asketen, ewige demütige Jungfrauen, Gotteskrieger etc. etc.

In die christlichen Körper wurde und wird insgesamt eine Kultur der sexuellen Lusthemmung und entsprechender Disziplinierung eingeschrieben (z.B. kein Sex vor der Ehe, Scheidungsverbot, Verbot homosexueller Praxis etc.) und über ein entsprechend formatiertes Gewissen kontrolliert (als Scham, Selbsthass etc.). Dies gilt es zu dekonstruieren, auch um jene lustfeindlichen Spuren christlicher Körperkultur aufzuspüren, die bis in die Gegenwart weiter wirken, etwa in Form von Leistung, Diät oder Extremsport.

 

Photo: Amy Shamblen on Unsplash

5 Kommentare zu „Kultur der Lust ohne Christentum“

  1. @Andreas Kessler: Interessant ist, was Sie schreiben über die «Verweisfunktion». Abgesehen von der etwas technischen Sprache, sehe ich das nicht als ein Manko, sondern sehe gerade darin unsere für die Gottebenbildlichkeit bestimmte Menschlichkeit. «Der Mensch überschreitet den Menschen unendlich…» (Blaise Pascal). Ist es nicht so, dass wir Sinn immer nur «erleben» als Teilhabe an einem gegebenen Sinn, ableiten von einem höheren Sinn? (Ich denke, es ist völlig sinnwidrig, davon zu sprechen, der Mensch gebe dem Leben den Sinn.)
    Laut dieser Anthropologie ist es keine Abwertung der Sexualität, wenn man auch für sie einen Sinn reklamiert. Lust ohne Sinn entmenschlicht, d.h. wird unserer menschlichen Person-Natur nicht gerecht. Das zeigt m. E. auch die Erfahrung.
    Aus einer theologisch konservativen reformierten Sichtweise ist nichts autonom von Christus! Alles steht in Relation zu Ihm.
    «Alles ist durch ihn [Jesus Christus] geschaffen, und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn» (Kolosser 1, 16).
    Das Ehepaar kann die Lust der intimen Begegnung geniessen in Dankbarkeit gegenüber dem alleinigen Geber und Erhalter aller Dinge.

    1. Vielen Dank für Ihren Kommentar, Herr Herz! Nur kurz: Wenn Alles zu Christus in Beziehung steht, stellt sich natürlich die Frage, wie dieser Christus formatiert ist bzw. ob er z.B. Kriterien sinnhafter oder sinnwidriger Lust bestimmt. Ihrer Meinung nach ist dies z.B. im Bereich der Sexualität offensichtlich der Fall, wenn Sie (wohl) exklusiv vom «Ehepaar» sprechen, welches die sexuelle Lust geniesst. Der lustvolle, gegenseitig gewollte und als schön empfundene One-Night-Stand würde dann nicht in Beziehung zu Christus stehen, oder doch? Und wenn nein, warum nicht? (Ich meine die Antworten zu kennen).
      Demgegenüber würde ich den EigenSinn jeglicher Lust stark machen, und der Umgang mit diesem EigenSinn ist dann eine Frage intensiver, prinzipiell offener, kultureller Aushandlungsprozesse als Teils des bereits erwähnten minimal regulierten LustSpiels : «Wie du willst, dass man deine Bedürfnisse und Interessen berücksichtigt, so berücksichtige auch die Bedürfnisse und Interessen der Anderen.» Man kann diesen EigenSinn der Lust auch theologisch begründen bzw.: Er bedarf wegen der Inkanation Gottes keiner Begründung mehr.

      1. Lieber Herr Kessler,
        das klingt auf mich so, als würden Sie die Inkarnation – eines der heiligsten Geheimnisse der Heilsgeschichte – benutzen (missbrauchen?), um die heute bei vielen Menschen normale Promiskuität zu rechtfertigen.
        Doch bedenken wir, was – für einmal – Nietzsche schrieb:

        O Mensch! Gib acht!
        Was spricht die tiefe Mitternacht?
        „Ich schlief, ich schlief -,
        Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
        Die Welt ist tief,
        Und tiefer als der Tag gedacht.
        Tief ist ihr Weh -,
        Lust – tiefer noch als Herzeleid:
        Weh spricht: Vergeh!
        Doch alle Lust will Ewigkeit -,
        – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

        In Christus bricht die Ewigkeit hinein in unsere Zeit.
        Und Er nimmt uns mit in seine ewige «Lust», wenn wir uns Ihm anvertrauen.
        Das andere – das sind falsche Scheine, Herr Kessler.

        «Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder πόρνοι noch εἰδωλολάτραι noch μοιχοὶ (Unzüchtige) noch μαλακοὶ noch ἀρσενοκοῖται.» (1Kor 6, 9)
        «Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?» (1Kor 6, 19)

        Mit freundlichen Grüssen und der Bitte um Gottes Segen, Severin Herz

  2. Holla, ich bin wohl aus meiner fundamental-evangelikal sozialisierten Art geschlagen.
    Wenn’s dann mal soweit ist, werde ich ein berühmtes Gebet sagen: „Herr, du hast mir das Können genommen, nimm mir auch das Wollen.“

  3. Vielleicht sollten wir einen vorurteilsfreieren Zugang zur kulturellen Blüte unter den Renaissance-Päpsten finden, welche, nicht nur in protestantischer Tradition, primär als vulgär, dekadent, frivol, verschwenderisch und verweltlicht gezeichnet werden. Sie waren wohl alles andere als Heilige, aber von Lustfeindlichkeit kann bei ihnen ja keine Rede sein.

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