Dein digitales Lagerfeuer
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Künstler*innen in der Luft

Kurz vor dem Lockdown, am 10. März, war ich zum ersten Mal in meinem Leben im Ballett – „Nussknacker und Mäusekönig“ im Opernhaus Zürich. Ich war darauf vorbereitet, mich gute zwei Stunden zu langweilen, doch es war ein Feuerwerk der Kreativität: Ich konnte mich kaum sattsehen! Die Kostüme und die Choreografien brachten mich zum Staunen, dazu die bekannte Musik von Tschaikowsky.

Ich ahnte bereits, dass das der letzte Besuch einer solchen Veranstaltung sein würde für eine Zeitlang; wegen der beschränkten Zuschauerzahl blieben viele Plätze im Opernhaus leer. Dass die Kultur-Zwangspause so schnell kommen und so lang bleiben würde, hatte ich aber nicht vermutet. Jetzt vermisse ich Theaterbesuche, und es reut mich auch sehr, dass ich mir die Ausstellung von Olafur Eliasson im Zürcher Kunsthaus nicht mehr anschauen konnte. Vielleicht ist auch das ein Kunsterlebnis: vorbei ist vorbei, Vergänglichkeit, vanitas etc.

Kleine Kunst-Kicks zu Hause

Im Homeoffice nehme ich jetzt hin und wieder eine Graphic Novel aus dem Regal, wo sie sonst seit Jahren verstauben. Und verleihe mir kleine Kunst-Kicks mit Bestellungen bei supportyourlocalartist.ch. Als ich dort kürzlich Postkarten von Schweizer Illustratorinnen bestellte und dann die liebevoll mit Zeichnungen versehene Post aus dem Briefkasten nahm, war das ein Highlight. Eine willkommene Abwechslung in meinem Homeoffice-Alltag, die mir ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Das Schöne: Die Freude wird noch verdoppelt, wenn ich die Postkarten in den nächsten Tagen an Freund*innen verschicke.

Kunst ist kein blosser Luxus, sondern etwas, was unseren Alltag verändern und uns kraftvoll berühren kann: Eine Porträtfotografie weckt Emotionen. Improtheater lässt uns Tränen lachen, ein Konzert verbindet uns mit anderen. Oder Poesie: Worte, die Kraft haben. Dass in der Kunst aber sogar die Geistkraft Gottes liegen kann, die Trost, Freude und Hoffnung verleiht – das fällt mir erst jetzt so richtig auf.

Kunst und Geist

In der Bibel ist ein Künstler der erste Mensch, den Gott mit der heiligen Geistkraft („Heiliger Geist“) ausstattete: Der Mann hiess Bezalel und führte die kunsthandwerklichen Arbeiten an der Stiftshütte aus, am mobilen Tempel, den das Volk Israel während der Wüstenwanderung mitführte. Der Ort der Gottespräsenz war nicht einfach ein Haufen Steine, die zum Altar aufgeschichtet wurden, sondern ein kunstvoll gestaltetes Areal.

„Der HERR hat ihn (Bezalel) mit göttlichem Geist erfüllt, mit Weisheit, Verstand und Kenntnis, (…) um alle vorgesehenen Arbeiten auszuführen. Auch die Gabe zu unterweisen hat er ihm ins Herz gelegt.“

Bezalel bearbeitete Edelmetalle wie Silber und Gold, aber auch Holz und Steine, und leitete andere Kunsthandwerker darin an (nachzulesen in Exodus 35,30-35).

Kreativität hat jede von uns in sich, aber die Fähigkeit, etwas so zu gestalten, dass es auch andere Menschen fasziniert und berührt, geht noch darüber hinaus. Künstler*innen schaffen Besonderes. Das wird in der zitierten Bibelstelle ausgedrückt: Dank der Kraft Gottes, die in ihm wirkt, kann Bezalel die Stiftshütte wunderschön ausgestalten. Ihre Schönheit gibt dem Volk Israel einen Hinweis auf die Schönheit Gottes. Auch deshalb war die Kirche lange Zeit die wichtigste Auftraggeberin der Kunst.

Das ist heute nicht mehr so. Gleich geblieben ist aber durch die Jahrhunderte, dass viele freischaffende Künstler*innen keine langfristig gesicherte Existenz haben, sondern von Projekt zu Projekt leben.

Ist Kultur systemrelevant?

Eine, die es sich – wortwörtlich! – gewohnt ist, in der Luft zu hängen, ist die Tänzerin und Akrobatin Rahel Merz aus Aarau. Sie ist auf dem Foto zu diesem Text zu sehen. Rahel ist eine Freundin von mir, und wenn ich ihre Auftritte besuche, berühren mich die Poesie und Leichtigkeit jedesmal sehr, mit der sie zur Musik am Luftring oder an Vertikaltüchern tanzt.

Luftakrobatin Rahel Merz

Momentan trainiert sie jedoch nur im Übungsraum, übt halb motiviert Choreografien für Veranstaltungen, die völlig ungewiss sind: Rahel Merz gehört zu denen, welche durch die Coronakrise über Monate sämtliche Engagements verloren haben. Viele freischaffende Künstler*innen fallen durch die Maschen der Massnahmen zur Wirtschaftsunterstützung. Ist Kultur systemrelevant?

Viele sind während der letzten Wochen noch kreativer geworden: Sie streamen Live-Konzerte im Internet, geben Online-Workshops, crowdfunden neue Literaturzeitschriften oder verkaufen ihre Werke auf Online-Plattformen. Doch das bringt niemanden langfristig über die Runden. Die Unsicherheit zehrt, die Reserven schmelzen.

In der Luft zu hängen, halte man nur kurze Zeit durch, sagte mir Rahel kürzlich am Telefon. Und wenn es eine wissen muss, dann sie.

Bild: Rahel Merz, fotografiert von Ricardo Amaral

3 Gedanken zu „Künstler*innen in der Luft“

  1. Wer jetzt immer noch ein gesichertes Einkommen hat, sollte mit seinem eingesparten Geld für Reisen und Kultur jetzt Kulturschaffende unterstützen!

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  2. Ja, gesellschaftliche Systeme leben auch von Kultur. Auch Sprache ist Kultur, nicht wahr? In der Serie “The Handmaid’s Tale”, basierend auf der Romanvorlage von Margaret Atwood, kommt m.E. zum Ausdruck, inwiefern Kultur dystopisch bewirtschaftet werden kann. Es kommt darin aber auch zum Ausdruck, inwiefern totalitäre Systeme durch Unterdrückung von Kultur Systeme entpersonalisieren können. Kultur an und für sich ist nicht einfach gut – oder?

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    • Liebe Sarah, danke für deinen Kommentar. Er öffnet nochmals einen neuen Themenbereich, den ich mit der Erwähnung der Kirche als Auftraggeberin bloss angeschnitten habe.

      Ich nehme Kunst und Künstler*innen meistens als unabhängig wahr, sowohl von religiösen als auch von politischen Systemen. Oft hat Kunst ja auch eine kritische Funktion diesen Systemen gegenüber. Interessant, dass du “The Handmaid’s Tale” erwähnst. Wird dort nicht vielmehr als die Kunst die Religion von den Machthabern instrumentalisiert?

      Mein Blogpost ist – wie die meisten unserer Beiträge im RefLab – vor allem eine persönliche Momentaufnahme. Schön, dass du deine Gedanken dazu beiträgst! Liebe Grüsse, Evelyne

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