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 Lesedauer: 4 Minuten

Jeder Mensch braucht das Richtige

Am 1. April 2021 (kein Scherz) wurde ich wiedergeboren. Ich bin Schweizer Bürger geworden, und zwar mit Geburtsort Jonen (AG). Für diese kartographische Signatur war nicht ich verantwortlich, sondern meine Schweizer Ehefrau (und ihre Vorfahren). Wegen der erleichterten Einbürgerung habe ich nämlich ihren Heimatort erhalten.

Nicht zufälligerweise passierte die Einbürgerung mitten in meinem Leben, das hoffe ich zumindest, genau dort wo sich auf meiner Lebenslinie die Schweizer Grenze und die italienische sich berühren. Ich bin nun nicht mehr hauptberuflich Secondo, sondern symmetrischer Doppelbürger.

Das Ambivalente meiner Existenz besteht immer noch, hat seine Form verändert und sich notariell verfestigt.

Nun darf ich zum 1. Mal abstimmen und habe mich wegen Corona für die briefliche Variante der Stimmabgabe entschieden.

Harziger Einstieg

Ihr müsst mir glauben, der Einstieg war nicht gerade leicht. Spannende Initiativen, die man aus verschiedenen Perspektiven erörtern kann, dicke Abstimmungsunterlagen (von der Gemeinde, vom Kanton und vom Bund), unterschiedlich grosse Kuverts und teils ungelöste Fragen. Ich musste auf einem Schreibtisch voller Blätter meine Gedanken sortieren, Argumente und Gegenargumente abwägen und zudem herausfinden, welche (politische) Person ich eigentlich bin.

Bist du pragmatisch genug?

Ich führe das mal aus der Sicht eines Neulings aus. Und natürlich ist dies meine persönliche Perspektive und nicht diejenige des RefLabs. Meine Werthaltungen, diejenigen meines Umfelds, meine Erfahrungen und Hoffnungen für mich und meine Familie prägen meine Entscheidungsfindung.

Beim Durchlesen der Abstimmungsunterlagen und der Empfehlungen des Bundesrats stellte ich fest, dass eine gute Prise Pragmatismus kontinuierlich mitschwingt.

Sind die Initiativen in dieser Form politisch, gesellschaftlich und strukturell umsetzbar? Oder gehen sie zu weit? Und wer bestimmt, was als zu „weit“ gilt?

Hinzu kamen auch marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen, die bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind. Knapp formuliert:

Wie hoch sind die anschliessenden Mehrkosten der Vorlagen und wer bezahlt diese?

Versteht mich bitte nicht falsch. Hätte ich die Unterlagen nicht aufmerksam durchgelesen, dann hätte ich bei den Volksinitiativen für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung und «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» klare und unumstössliche Meinungen. Denn wer möchte kein sauberes Wasser, wer keine gesunde Nahrung?

Dann kamen aber die pragmatischen und marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die mich im Kopf einschränkten. Es fühlte sich zumindest so an, als sei ich nicht wirklich frei. Ich musste ein paar Schritte zurücktreten.

Viel zentraler war für mich die Frage: Was ist (für mich) richtig? Und beim nochmaligen Blättern des roten Büchleins habe ich mich irgendwann gefragt:

«Ist es entscheidend, welche Person ich bin, oder vielmehr welche bestmögliche Person ich sein möchte, unabhängig von den monetären und pragmatischen Konsequenzen einer Initiative?».

Das Versprechen von Verfassungen

Stephan Jütte hat mich auf das letzte Buch von Ferdinand von Schirach aufmerksam gemacht: «Jeder Mensch». Darin werden vom deutschen Juristen und Schriftsteller ergänzende Grundrechte für Europa empfohlen. Durchsetzen will er diese Grundrechte, die er mit Rechtsanwälten und Juraprofessoren erarbeitet hat, durch Bürgerbeteiligung und ruft deswegen dazu auf, eine Online-Petition auf www.jeder-mensch.eu zu unterschreiben.

Ein Verfassungskonvent soll die Charta der Grundrechte der Europäischen Union um folgende Grundrechte erweitern:

Artikel 1 – Umwelt

Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

Artikel 2 – Digitale Selbstbestimmung

Jeder Mensch hat das Recht auf digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

Artikel 3 – Künstliche Intelligenz

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

Artikel 4 – Wahrheit

Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

Artikel 5 – Globalisierung

Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.

Artikel 6 – Grundrechtsklage

Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.

Bist du utopisch genug?

Ich werde nicht ins Detail gehen, ich habe mich aber bei den anstehenden Vorlagen nicht für die pragmatische Linie entschieden. Das Machbare stand für mich nicht im Vordergrund. Ich möchte eine bessere Version meines Selbst sein. Auch dann, wenn ich auf Sachen und Dienstleistungen verzichten muss oder mein Leben teurer wird. Selbst dann, wenn es utopisch ist, bin ich argumentativ auf der Seite von Ferdinand von Schirach: Die Verfassung muss uns vorgeben, wohin wir uns entwickeln wollen, nicht nur beschreiben, wer wir gerade sind.

Bin ich zu privilegiert? Darf ich mir Idealismus leisten und andere nicht? Vielleicht ist es so. Aber die Pandemie hat mir und uns aufgezeigt, dass es manche Rituale und Halbwahrheiten gibt, die wir jahrzehntelang nicht hinterfragt haben und die nun nicht mehr gelten. Diese betreffen insbesondere die Art und Weise, wie wir die Arbeit organisierten.

Wir können und müssen uns auch in anderen Lebens- und Gesellschaftsbereichen anpassen. Entweder antizipieren wir die Zukunft oder müssen uns dann in Schnelltempo adaptieren.

 

Photo by Fábio Lucas on Unsplash

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