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Heiliger Rest? Ohne mich!

Wann immer Studien und Erhebungen zum Mitgliederschwund der Landeskirchen erhoben werden, melden sich Kirchenleitungen, Pfarrpersonen und Mitarbeiter*innen zu Wort, die in den Kirchenaustritten eine Chance zu erkennen meinen: „Ist doch gut, wenn die Kirche sich ‚gesundschrumpft‘. Dann sind nur noch diejenigen dabei, denen es wirklich ernst ist.“ Voilà, die Fiktion vom heiligen Rest.

Ich kann verstehen, dass man das ewige Lamento „ärmer, älter, kleiner“ nicht mehr hören mag. Und es stimmt, dass sich mit der kulturprotestantischen Idee einer in die Gesellschaft diffundierenden Kirche Mitgliederzahlen weder halten noch steigern lassen. Man wünscht sich Aufbruch, Wachstum und eine Vision. Da ist der elitäre Gedanke, dass eine um ihr träges Bauchfett erleichterte Kirche attraktiver sein würde und gerade in der Selbstbesinnung auf „die eigene Sache“ wieder Mitglieder gewinnen könnte, natürlich verlockend. Der Fehler liegt dann bei den lauwarm predigenden Pfarrer*innen, dem fehlenden Engagement der meisten Kirchenmitglieder, den Kirchenleitungen, die Geld in Fusionen und Gebäude, statt in Menschen buttern. „Das war bei Jesus also ganz anders.“

Jesus wäre chancenlos

Um es direkt zu sagen: Das hilft nicht. Jesus hätte mit seinem Programm keine Chance heute. Denn sein Reich ist nicht von dieser Welt. Aber an eine andere Welt glauben wir nicht mehr. Der Vater, der ihn gesandt haben soll, ist für uns ein Mythos vergangener Zeiten.

Die Nächstenliebe haben wir institutionalisiert und dabei auch gleich geregelt, wer unser Nächste ist. Und vor allem, wer nicht.

Wir suchen Wunderheiler erst dann auf, wenn unsere Spitzenmedizin am Ende ist. Meistens sind wir selbst es dann auch bald. Und Krankheiten sind keine gottgewollten Strafen, sondern medizinische Herausforderungen. Taube werden hören und Blinde werden sehen. Wenn sie versichert sind. Hungersnöte sind keine über die Menschheit hereinbrechenden Schicksalsschläge, sondern sozialpolitische Skandale.

Ohne Problem kein Evangelium

In dieser Welt das Evangelium zu verkünden, ist nicht leicht. Denn das Evangelium setzt einen gewissen Problemdruck voraus, von dem es den Menschen befreit: Von seiner Schuld, seinem Tod und dem Bösen. Schuldig fühlen wir aber vor allem gegenüber uns selbst. Wenn wir hinter unseren Erwartungen und Möglichkeiten zurückbleiben. Wir bearbeiten das dann in einer Therapie, steigern uns und werden besser.

Den Tod haben wir entfernt. Gestorben wird erst im Alter, d.h. nach dem man aus dem erhaltenden Teil des Wirtschaftskreislaufs entfernt worden ist. Ohne Schmerzen.

Um das Böse zu bekämpfen brauchen wir keinen Gott, sondern Demokratien, Menschenrechte und Gerichtshöfe. Letztlich bewältigen wir unsere Probleme also durch Bildung.

Bildung

Und es ist kein Zufall, dass sich unser Bildungsverständnis in den letzten zweihundert Jahren massiv verändert hat. Im Ursprung ist Bildung ein theologischer Begriff: Der Mensch wird durch Gott gebildet, als sein Abbild. In der Renaissance wurde Bildung zu einem regelrechten Programmbegriff: „Nichts ist naturgemäßer als Tugend und Bildung – ohne sie hört der Mensch auf, Mensch zu sein.“, wusste Erasmus von Rotterdam.

Bis zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts war Bildung ein theologisch formatiertes Programm. Danach wurde es zum Sozialisierungsprojekt.

Das Ziel menschlicher Vervollkommnung lag seit Herder, Schiller oder Pestalozzi nicht mehr in der Gottebenbildlichkeit, sondern darin, ein taugliches Mitglied der Gesellschaft zu werden. Wilhelm von Humboldt revolutionierte unser Denken über Bildung, indem er Bildung zu einem menschlichen Selbstzweck erklärte. Das Bildungsbedürfnis sei in jedem Menschen angelegt und müsse nur Entfaltungsmöglichkeiten finden. Eine schöne Idee. Aber schon hundert Jahre später wurde sie zum bürgerlichen Abgrenzungskriterium: Bildung genügt sich nicht selbst, sondern soll Nutzen bringen.

Wir brauchen Gott nicht

Welchen Nutzen hat die Theologie? Jeder möchte den Krebs lieber durch Bestrahlung heilen lassen, als in der eigenen Kontingenzbewältigung hermeneutisch unterstützt werden. Durch Aufgabenteilung und den Erfolg der Naturwissenschaften wurden viele Probleme für die wir ehemals geistlichen Beistands bedurft hätten, technisch gelöst. Wir haben Ärzte, Physikerinnen, Baustatiker, Meteorologinnen und für jedes Unglück ein paar passende Versicherungen.

Das Aufgabenfeld der Kirchen wurde drastisch reduziert.

Uns geht es gut. Und weil wir gelernt haben, ohne Hoffnung auf eine Welt hinter oder über dieser Welt zu leben, brauchen wir Gott bis am Schluss nicht.

Gott ist vielleicht das Einzige, was wir wirklich nicht brauchen. Gott heilt keine Kranken. Gott verhindert keine Naturkatastrophen, Despoten und Diktatoren. Gott ist nutzlos. Aus dieser Nutzlosigkeit und Unverfügbarkeit scheint ab und an ein Licht auf unsere nutzenorientierte Welt. Von weit weg. Ganz warm. Aber man kann dieses Licht nicht verwalten. Dieser Gott ist aus der Kirche ausgezogen und es nicht noch nicht abzusehen, wohin er uns führen wird. Und vielleicht nimmt sie den heiligen Rest ja auch mit.

7 Kommentare zu „Heiliger Rest? Ohne mich!“

  1. Manfred Reichelt

    Sehr gut die IST-Situation erfasst. In dieser Hinsicht besteht tatsächlich kein Bedarf an Gott.
    Aber was, wenn unsere Ärzte/Medizin nur die Symptome heilen können? – Wenn des Menschen Probleme dadurch überhaupt nicht gelöst werden? Wenn sich die Probleme verschlimmern, wie es ja schon durch die Umweltschäden eingetreten ist?
    Hat der Mensch ein naturalistisches Weltbild, dann kann er sich aus der Verantwortung stehlen. Und das ist, was trotz allem guten Willens, geschieht.
    Begreift aber der Mensch, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, auch keine erlösende Ewigkeit nach dem Tod kommt, sondern solange ein neues Erdenleben, bis er seine Probleme bewältigt hat, ist er vielleicht besser motiviert, sich durch ein neues Bewusstsein (das der christl. Glaube „Wiedergeburt“ nennt) verändern zu lassen.
    Heute können wir mit Bestimmtheit sagen, dass Reinkarnation ein Fakt ist – für ALLE, auch für Christen.
    https://www.academia.edu/37936734/Genetik_Reinkarnation_Kirche

  2. Stephan, der zeitgenössische Giordano Bruno als versicherter Kassenpatient, hihi. Gut.
    Und gegen Scheiterhaufen gibt’s, Gott sei Dank, rote Feuerlöscher an jeder Ecke öffentlicher Plätze. Gut.

  3. Jesus hatte – genau genommen – nie eine Chance! Paulus hat ihm, wie ich das sehe, so ziemlich alles genommen, was Jesus in seinem Leben und mit seinem „Leiden und Sterben“ aufzuzeigen gewollt hat. „Für die Sünde Adams und der Welt gestorben“ – so ein Quatsch! (Das wären heutze ja zig Milliarden „Seelen“, für die er gestorben wäre…!) Entstanden ist eine „Kirche“ (= dem Herrn/Jesus zugehörig), die mehr und mehr paulinische Züge annahm: „Die Obrigkeit ist von Gott!“ Eine Katatrophe bis zum heutigen Tag, wo Jesu Vision von der „Menschwerdung des Menschen“ immer noch und immer neu mit Füssene getreten wird. Mister Trump mit der hoch erhobenen Bibel vor einer Kirche – das ist „Christus-Lästerei“. In meinen Augen. Ich bin überzeugt, dass Jesu Gang in die „Maschinerie der Macht und des Machtmissbrauchs“ seine letzte – prophetische – PREDIGT an die Seinen – auch ans uns – war. „Verhindert mit aller Macht, dass so etwas, wie ich es jetzt dann erleide, in eurer Welt passsiert: Dass aus unschuldigen Kindern brutale Folteknechhte gemacht werden und dass Unschnuldige grausam mishandelt und ausgelöscht werden. – Wiegesagt: Paulus hat – in meine Augen – Jesus „beseitigt“. Vielleicht unbewusst und ohne es zu wollen. Dafür umso radikaler. Entsprechend sieht unsere Welt aus…

  4. Paulus war einer von Religionsphilosophen. Zufällig epochal einer der ersten Großen nach Ort und Stelle. Sein Wissen sei Stückwerk und beschränkt, sagt er selbst. „Alle Obrigkeit ist von Gott…,“. Er würde heute genauso facettenreich sagen: „Keine Obrigkeit ist von Gott…“. Ich stelle mir hinter beiden Ausdrücken immer ein „… ,wenn dies oder das so ist oder so nicht ist.“ vor.

    Aus dem Biblizismus der Chicagoerklärungen sind wir längst raus, sollten wir raus sein. Ist unheilig bzw. unheilend bzw. unheimlich daneben.

    Es kommt jeweils gegenwärtig immer auf den pragmatischen und philosophischen Kontext an.

    Worte in Satzgebilden sind Bilder, Metaphern, Analogien, auch Narr-ative, besonders zu rational nicht Wahrnehmbaren. Übersinnliches wird zu Über-flüssigem, zerfliessend, un-begreiflich.

    Paulus ist ein Kind seiner Zeit, allerdings mit Folgen. Nicht nur Paulus hat Jesus etwas „genommen“, auch die über zweitausendjähre Kirchengeschichte mit ihren Irrtümern und Splitterungen, Mächtigkeiten und Ohnmächtigkeiten … vielleicht Paulus gleich, … vielleicht uns allen gleich.

    1. Das ist schon richtig – und fast noch das grössere Übel -, dass die Kirche in den zwei Jahrtausenden ihres Bestehens zwar manch Gutes aber auch leider sehr viel – zu viel – Schlimmes in die Welt gebracht hat. Das „konnte“ sie, weil der Traum Jesu, seine Vision, nach Paulus mit Füssen getreten und oft fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden ist. Und noch verstümmelt wird, sobald MACHT im Spiel ist. Dass mehrere Milliarden „Christen“ nicht fähig sind, die Vision Jesu von FRIEDEN UND MENSCHLICHKEIT umzusetzen, ist das grösste der Ärgernisse, die überhaupt bestehen. Man fragt sich wirklich, wie lange noch…

  5. Ob wir Gott brauchen? – falsche Frage
    Bildung als Antwort auf die Fragen der Menschheit und des einzelnen Menschen? – Schuld, Egoismus etc. lässt sich nicht weglernen

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