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 Lesedauer: 5 Minuten

Gott und die Welt auf Netflix: Part I

Hier geht’s zu: Gott und die Welt auf Netflix: Part II

Geschichten sind das, was die Menschheit zusammenbindet – und immer wieder auch das, was sie entzweit. Geschichten prägen einzelne Menschenleben, stiften Identität, bestimmen unser Selbstverständnis und bieten den Rahmen, in dem wir unser Leben verstehen.

Der Mensch, könnte man sagen, ist jenes Wesen, das Geschichten erlebt, erfindet, erzählt und weiterschreibt.

Soweit wir die Spuren unserer Spezies zurückverfolgen können, war sie von Geschichten begleitet: Das babylonische Gilgamesch-Epos, die griechischen Mythen mit ihren Göttern und Helden, und natürlich die biblischen Geschichten, die grossen Erzählungen des Alten und Neuen Testaments, welche gerade die westliche Kultur und Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg entscheidend geformt haben.

Mindestens subkutan haben sie unser Selbstverständnis geprägt, unsere Moralvorstellungen begründet, die Rede von Menschenwürde und Freiheit ermöglicht. Wenngleich sie längst nicht von allen für wahr gehalten wurden, so haben die biblischen Geschichten und ihre kirchliche Überlieferung doch den Deutungshorizont für unser Leben bereitgestellt und Sinn vermittelt – sie haben Menschen in unseren Breitengraden unter einem gemeinsamen Narrativ vereint.

Die Klage über den Zerbruch der grossen Erzählung

Diese Situation hat sich in den vergangenen Jahrzehnten (manche würden die Entwicklung auch viel früher schon ansetzen) grundlegend verändert. Man spricht vom Zerbruch der sinnstiftenden Erzählungen, vom Verlust des jüdisch-christlichen ‚Meta-Narrativs‘ – eine philosophische Ausdrucksweise für die nüchterne Feststellung, dass das Christentum seine Selbstverständlichkeit verloren, sein weltanschauliches Monopol eingebüsst hat:

Die grosse abendländische Geschichte ist in zahllose kleinere Geschichten und Narrative auseinandergefallen, wie sich auch die Gesellschaft in verschiedenen Milieus, Subkulturen und Interessengruppen stärker tribalisiert.

Besonders von den Kirchen wird diese Entwicklung immer wieder bitter bedauert. Sie sind nur noch eine Stimme unter ganz vielen, ein Produkt auf dem Markt der Sinnstiftungsangebote – dieser Bedeutungsverlust schmerzt, und in der Klage darüber gehen zwei Beobachtungen schnell unter, welche die Motivation für den Podcast »PopcornCulture« und die daran angeschlossenen Blogposts ausmachen…

Serien und die Suche nach tragenden Narrativen

Das erste ist die Einsicht, dass ein post-kirchliches Zeitalter nicht notwendigerweise auch ein säkularisiertes – und ganz sicher nicht einfach ein oberflächliches oder gar materialistisches – Zeitalter sein muss. Im Gegenteil bin ich überzeugt, dass die Verunsicherungen und Suchbewegungen unserer Gegenwart nach dem weitgehenden Abschied vom Christentum tiefer gehen und weiter führen, als es in einer Zeit christlich-bürgerlicher Selbstverständlichkeiten je der Fall war.

Die existenziellen Fragen, auf welche eine christliche Weltdeutung Antworten gegeben hat, sind ja nicht einfach erledigt, wenn man die christliche Weltdeutung hinter sich lässt. Vielmehr stellen sie sich dann gerade von neuem. Das, worüber man früher kaum nachdenken musste, was man von seinem Elternhaus unhinterfragt übernommen oder gesellschaftlich einfach assimiliert hat, wird dann plötzlich Gegenstand ernsthaften Fragens und angeregter Diskussionen, vielleicht sogar Grund für schlaflose Nächte. Und eben der Zerbruch der ‚grossen Erzählungen‘ gebiert das Bedürfnis, neue Narrative zu stricken und sich in neuen Geschichten zu verorten.

Ausdruck davon sind nicht zuletzt die zahlreichen Serien, welche die Online-Streaming-Plattformen in den letzten Jahren geradezu überfluten. Das Verlangen der Konsumenten nach neuen Fortsetzungsgeschichten ist in den vergangenen Jahren derart gestiegen, dass ein Netflix-Produzent in einem Interview die Überzeugung äussert, die Produktion von Serien bleibe um das Zweihundertfache hinter der Nachfrage zurück.

Neue Helden und Mythen für neue Zeiten

Es wäre ausgesprochen kurzsichtig, hierin nur Unterhaltungssucht und Zerstreuungsabsicht auszumachen oder den Produzenten reine Geldmacherei vorzuwerfen (auch wenn der explodierende Serien-Markt enorme Summen umsetzt). Vielmehr geht es augenscheinlich auch um Versuche, neue Narrative für unsere Zeit zu schaffen, Geschichten zu erzählen, in denen Menschen sich wiederfinden, in denen sie Sinnstiftung erfahren und Lebensdeutung vollziehen.

So werden neue Heldinnen und Helden (wie auch AntiheldInnen) hervorgebracht, die mit ihren Abenteuern an die Stelle der klassischen Mythen der Antike, der Dramen des Theaters, auch der biblischen Geschichten treten. In ihren Geschichten werden Fragen aufgeworfen, welche Menschen heute zutiefst umtreiben, Antworten verarbeitet, die sie gefunden haben, Hoffnungen ausgedrückt, die sie hegen. An vielen Serien auf Netflix und Co. lässt sich darum der Puls der Zeit tiefenschärfer und zeitnäher ablesen als in mancher soziologischer Literatur.

Popkulturelle Erzeugnisse und existenzielle Fragen

Wer solche popkulturellen Produktionen aufmerksam wahrnimmt, wird viele Motive wiederfinden, welche auch die christliche Lebensdeutung über Jahrhunderte angetrieben hat – und kann darüber staunen, wie aktuell und virulent die grossen Fragen von Schuld und Vergebung, von Identität und Selbstfindung, von Angst und Hoffnung, von Leben und Tod und dem was danach kommt mitten in unserer (post)modernen Gesellschaft sind.

Ich jedenfalls habe den begründeten Verdacht, dass unsere Zeit offener und anschlussfähiger ist für das, worum es im christlichen Glauben geht, als die oft verklärte Vergangenheit, in welcher das Christliche so selbstverständlich war, dass man sich gar nicht ernsthaft damit auseinanderzusetzen hatte…

 

P.S.: Dieser Blogbeitrag interagiert mit dem RefLab-Podcast «PopcornCulture». Jeden Monat rede ich dort mit Künstlerinnen, Theologieprofessoren, Zeitgeistforscherinnen und anderen spannenden Persönlichkeiten über ihre Lieblingsserie auf Netflix (oder einer anderen Streaming-Plattform). Wir unterhalten uns über das, was uns an dieser Serie begeistert und auf gute Gedanken über Gott und die Welt bringt.

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