Dein digitales Lagerfeuer
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 Lesedauer: 6 Minuten

Glaube braucht Räume – Kirche bietet sie (eigentlich)

Sie könne mit Freundinnen problemlos über Sex sprechen, erzählte mir eine junge Frau einmal. Aber Glaube – Glaube sei ein Tabuthema.

Glaube ist ein gesellschaftliches Tabu. Auch andere nehmen das so wahr: Der Journalist Tobias Haberl hat kürzlich mit seinem Buch «Unter Heiden» einen Nerv getroffen; er spricht von schwierigen «Outings» als katholischer Christ.

Ich würde niemals soweit gehen, zu sagen, dass Christ:innen in Westeuropa diskriminiert werden, wie das manche behaupten, auch bei Haberl schwingt diese Note mit. Doch über das, was man persönlich glaubt, mit anderen Menschen zu sprechen, das ist im Alltag tatsächlich schwierig.

Es gibt bei vielen ein grosses Unbehagen, ein Gefühl der Verletzlichkeit, das Risiko, missverstanden oder kritisiert zu werden.

Die Frau aus dem eben geschilderten Gespräch war getauft und konfirmiert, bezeichnete sich aber als «nicht besonders gläubig». Sie nutzte die Zufallsbegegnung mit mir, damals Theologiestudentin, um Fragen zu stellen.

Ist Kirche kein Ort für den Glauben?

Eine Religionsbefragung kam dazu im Frühjahr zu einem überraschenden Schluss: Kirchgemeinden werden nicht primär als Orte wahrgenommen, an denen der eigene Glaube praktiziert werden kann.

Viel stärker fällt etwa ins Gewicht, dass sich die Kirche für «Bedürftige» einsetzt oder dass durch die eigene Kirchenmitgliedschaft eine gewisse Tradition erhalten bleibt.

Die Umfrage, die das Forschungsinstitut Sotomo im Auftrag der katholischen Kirche des Kantons Zürich durchgeführt hat, haben wir bei RefLab damals auch diskutiert (Artikel von Stephan Jütte, Podcastfolge «Stammtisch»).

Sotomo Religionsbefragung Grafik
Quelle: Religionsbefragung Katholische Kirche im Kanton Zürich, Abschlussbericht von Sotomo, S.75.

 

Kirche wird nur von wenigen vornehmlich als «Ort, um den Glauben auszuleben» gesehen. Unter den Gründen, Mitglied der reformierten Kirche zu bleiben, ist diese Funktion der Kirche für viele unwichtig.

Dies legt verschiedene mögliche Schlüsse nahe:

  • Kirchliche Rituale und Angebote werden nicht als Gelegenheiten zum «Ausleben des Glaubens» wahrgenommen. Sei es, weil sie fremd geworden sind, sei es, weil sie im Alltag selten vorkommen (oder wie oft waren Sie in den letzten Monaten an einer kirchlichen Trauung, Taufe oder Trauerfeier?).
  • Das «Ausleben des Glaubens» wird nicht als gemeinschaftliche, sondern als individuelle, intime Praxis betrachtet. Oder aber – weniger wahrscheinlich – vor allem im Alltagsleben lokalisiert.
  • Es fehlen Angebote, die sich so persönlich anfühlen, dass darin der eigene Glaube Platz hat.
  • Menschen stellen sich Glaubensfragen durchaus, das Vertrauen in die Kirche fehlt aber, sich in diesem Umfeld zu äussern.
  • Oder es wird schlicht nicht mehr erwartet, dass die Kirche etwas zur eigenen Spiritualität beizutragen hat.

Was davon zutrifft, unterscheidet sich vermutlich von Person zu Person, sowie von Kirchgemeinde zu Kirchgemeinde.

Kirchgemeinden als Möglichkeitsräume

Dieses Resultat der Umfrage zeigte allerdings ein Potenzial, das zu wenig genutzt wird. Denn, zurück zum Anfang: In den meisten gesellschaftlichen Settings ist es heikles Terrain, über Gott und den Glauben zu sprechen. In der Kirche nicht.

Das macht Kirche einzigartig.

Kirche bietet – böte? – im Zeitalter der Säkularisierung Orte, an denen der Boden für solche Gespräche gegeben ist. Der als kirchlich deklarierte Raum ist ein Möglichkeitsraum:

In Kirchgemeinden sind Menschen zu finden, mit denen man über Fragen nach Gott oder Religion sprechen kann, über das Heilige oder über Sinn und Unsinn von Gebet. Wichtig: Solche Gesprächspartner:innen sind nicht nur die theologisch ausgebildeten Ansprechpersonen, sondern alle, die sich in den kirchlichen Räumen bewegen.

Hier ist Glaube kein Tabu

Man darf davon ausgehen, dass die Menschen, die man in kirchlichen Settings antrifft, einen gewissen Bezug zum Christentum haben – oder zumindest keine Abneigung dagegen.

Indem man den persönlichen Glauben teilt (und zwar nicht nur Überzeugungen, sondern auch damit zusammenhängende Zweifel und Fragen), macht man sich verletzlich.

Im Alltag besteht oft das Risiko, dafür Missverständnis und Ablehnung zu ernten – auch bei Menschen, die einem nahestehen. Die Kirche bietet einen gewissen Schutzraum: Hier dürfte Glaube kein Tabu sein.

Dies stellt für Kirchgemeinden auch eine hohe Verantwortung dar: Es gilt, Angebote für Offenheit und Persönliches zu machen, ohne dies einzufordern. Und es muss so gut wie möglich dafür gesorgt werden, dass die entstehende Intimität nicht missbraucht werden kann.

Die Bekenntnisfreiheit wird gewahrt

Im Zuge des steigenden Drucks auf die Kirche, ihr Profil zu schärfen (im «Stammtisch» sprach Stephan Jütte davon, dass Kirchen nicht einfach das Gleiche wie Hilfsorganisationen machen sollten), könnte dies ein Fokus sein:

Orte pflegen, an denen Glaube ausgelebt und darüber gesprochen werden kann. Es gilt, Räume dafür anzubieten und das Glaubens-Tabu, wo es auch in Kirchgemeinden besteht, aktiv zu brechen, ohne übergriffig zu sein.

Über Glauben zu sprechen, ist weder anachronistisch noch frömmlerisch. Denn es erfordert von denen, die zu den aktiveren Mitgliedern oder sogar Mitarbeitenden gehören, Mut: In vielen Kirchgemeinden wird sogar unter Pfarrpersonen über die persönliche Spiritualität nicht gesprochen.

Mit diesem Möglichkeitsraum ist auch keine spezifische Position verbunden:

Ein Ort zu sein, an dem über Glaube offen gesprochen werden kann, bedeutet eben gerade nicht, einseitige Antworten bereit zu halten.

Unterschiedliche Erfahrungen und Positionen werden ausgehalten und als Bereicherung gesehen. Wenn wir alle Gläubige unter anderen manchmal mehr, manchmal weniger Gläubigen sind, wird auf Augenhöhe diskutiert.

Wirksam gegen Einsamkeit

Auch als Theologin vertrete ich nur meine eigene Haltung und nicht eine offiziell kirchliche. Das bedeutet, dass auch ich mit meinen Fragen andocken kann, wo andere mehr Lebenserfahrung und andere Perspektiven an den Tisch bringen.

Etwa beim Kirchenkaffee, wo nach dem Gottesdienst Gedanken zur Predigt diskutiert werden.

Genau hingeschaut, ist dies etwas vom Wenigen, was Kirche von anderen sozialen Räumen unterscheidet: Glaube ist hier kein Tabu.

Auch im digitalen Raum bieten sich solche Möglichkeiten, wie wir im RefLab fast täglich erleben und in persönlichen Rückmeldungen hören. Womöglich ist die Schwelle, sich online und aus einer gewissen Distanz mit dem eigenen Glauben auseinanderzusetzen, niedriger. Man fühlt sich sicherer, kann ein Stück weit anonym bleiben und sich gerade dadurch ehrlicher zeigen.

So kann zwischen den Menschen, die sich in kirchlichen Räumen – ob nun online oder offline – treffen, etwas Tieferes entstehen. Gespräche, die Leben prägen und Einsamkeit vorbeugen. Weil hier etwas, was viele von uns zutiefst beschäftigt, wenn wir ehrlich sind, ohne Angst vor Ablehnung thematisiert werden kann.

 

Foto: Kirche Zürich Enge an der «Langen Nacht der Kirchen» 2021, Foto: Gion Pfander.

«Gott zwischen Pixeln: Spiritualität im digitalen Raum» von Johanna Di Blasi

Artikelserie zum Netzkloster («gemeinsam online meditieren»), ebenfalls von Johanna Di Blasi

1 Gedanke zu „Glaube braucht Räume – Kirche bietet sie (eigentlich)“

  1. TABU – Vor einiger Zeit, in meiner Funktion als Taxifahrer, habe ich mich mit einem “Oberen” der ev. Kirche über die Philosophie der Bibel unterhalten. Am Ende der Fahrt sagte er dann: Ach, sie haben ja recht, aber was soll ich machen, wenn ich die Wahrheit von der Kanzel predige, bin ich meinen Job schnell los.

    Der nette Mensch ist nun wieder Pastor einer Dorfkirche (vielleicht wegen mir???), wo er höchstwahrscheinlich auch nur einen Job ausfüllen kann, aber sicher seine Freundlichkeit nicht verloren hat (viele “Geistliche” haben aufgrund des Dogmas dieser Welt- und “Werteordnung” ihre Freundlichkeit verloren oder verlagert).

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