Ein letztes Mal spaziere ich, Notizbuch in der Tasche, durch den Dählhölzliwald in Bern, um darin Zeilen für diese Kolumne zu finden, doch vorerst finde ich mich in Gedanken erneut auf einem Ast balancierend, als wäre mein Unterbewusstsein ein Eichhörnchen und ich also nicht auf der Höhe meiner selbst. Puh! Was für ein umständlicher Einstieg! So hänge ich doch gleich sämtliche Leserinnen und Leser ab!
Dabei wollte ich hier nur einen normalen Waldspaziergang absolvieren und eine normale Kolumne darüber schreiben – merke gerade, wie anmaßend das eigentlich ist; denn der Wald schuldet mir überhaupt nichts; ich ihm hingegen sehr viel.
Ach, wüsste ich nur wie die Worte in meinem Kopf zu Sätzen zusammenwachsen und sich diese folglich ineinander verzweigen, dann … das ist es! Gehe ich durch den Wald, gehe ich eigentlich durch meinen Kopf – ach! Und was hilft mir diese Erkenntnis nun? Vielleicht sollte ich darüber eine Statistik in Auftrag geben; also zur Frage, wo der Mensch aufhört und wo der Wald beginnt. Wobei, Achtung! Das dürfte mir auch nicht weiterhelfen, denn eine neue Studie hat ergeben, dass die Lektüre von zu vielen Artikeln über neue Studien zu einem exponentiell wachsenden Wirrwarr im Kopf führt. Entschuldigen Sie mich abermals!
Bange Frage an mich selbst: Ist meine letzte Kolumne fürs RefLab noch zu retten? Souverän wäre eine Kolumne doch nur so: Ein Thema, eine Haltung, kurze, einfache Sätze, ein klar definiertes Zielpublikum, das immer das bekommt, was es erwartet, sprich die eigene Meinung bestätigt kriegt. So funktionieren heute die meisten Kolumnen. Demnach bin ich als Kolumnist gescheitert – ein Scheitern aber, das ich, beinahe uneitel, als Befreiung verstehe.
Ich streife weiter durch den Wald, bis ich auf einmal denke:
Für etwas sein, aber es in Teilen kritisieren: Das Normalste der Welt scheint für zunehmend mehr Menschen das Unnormalste der Welt zu sein. Entweder-oder gewinnt gegenüber Sowohl-als-auch immer mehr an Raum. Die Spaltung der Gesellschaft schreitet so tragischerweise voran.
Die komplexe Wirklichkeit wird vermehrt gegen aufgeräumte Parallelwirklichkeiten eingetauscht, wo man nett unter seinesgleichen bleibt. Doch irgendwann holt einen dieser Selbstbetrug, diese Realitätsverweigerung böse ein. Und je mehr man sich in eine Parallelwirklichkeit verabschiedet, desto intoleranter, respektloser und gnadenloser verhält man sich gegenüber allen Menschen außerhalb der eigenen, dichten Blase. Bis man vor lauter Selbstgerechtigkeit nur noch in Parolen schreibt.
Da fällt mir ein, wie mir kürzlich eine dunkelhäutige Kollegin, die hier lebt und arbeitet, erzählte, wie ihr weiße Aktivistinnen erklärten, wie sie über Rassismus in der Schweiz zu reden und denken hätte. Ja, es gibt Menschen, die gar nicht merken, wie rassistisch sie sind, wenn sie glauben, für DIE Ausländer zu sprechen. Diese Form des bevormundenden Rassismus linksidentitärer Prägung muss aber genauso wie der rechtsidentitäre Rassismus verurteilt werden. Identitär denken (egal, ob linker oder rechter Prägung) heißt eben grundsätzlich, ZUERST nicht vom Individuum auszugehen, sondern herablassend und also bevormundend von positiven oder negativen Herkunfts-Vorurteilen. Überhaupt sollte man immer aufhorchen, wenn jemand vorgibt, für eine ganze Gruppe (sei sie noch so divers) zu sprechen und jegliche abweichende Meinung innerhalb der Gruppe demokratiefeindlich wegschweigt oder wegschreit. Das kommt leider in allen (zu geschlossenen) Communities vor. Entsprechend klingen dann auch die Statements und Texte, die deren stramme Wortführerinnen und Wortführer veröffentlichen.
Deshalb sind für mich Gespräche mit unterschiedlichen Menschen so wertvoll, besonders mit Menschen, die sich von keiner Gruppe, Partei, Religion usw. genügend repräsentiert fühlen, weil Sie sich eben zuerst als Individuen verstehen und nicht als stillschweigende oder kritiklos nachplappernde Mitläuferinnen oder Mitläufer.
Wer ohne Wenn und Aber für eine gerechtere Welt einstehen will, der konzentriert sich immer aufs Kitten und nicht aufs Spalten. Es ist der beschwerlichere und mutigere Weg, aber nur dieser führt schlussendlich zu einer gerechteren Welt.
In dem Moment stolpere ich über eine Baumwurzel – kann passieren. So wie mir diese Kolumne passiert (so einfach ist das natürlich nicht). Einfacher wäre es wohl, wenn ich mich von einer Gruppe einspannen ließe, und mich folglich nur noch zielgruppeorientiert in ihrem Sinne äußerte.
Nein! Das lass ich mal schön bleiben. So! Mittlerweile habe ich eine Lichtung erreicht: Ich schiebe das Notizbuch in die Tasche. Weiter komme ich heute nicht. Ich spüre, dass irgendwo in meinem Rücken ein Eichhörnchen vom einen zum anderen Ast springt und irgendwie auch in meinem Kopf rum. Ich schüttle diesen und gehe nun doch weiter. Wohin wird sich weisen.
Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Spoken Word Artist und Speaker. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Regelmässig Auftritte in ganz Europa, in den U.S.A., in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Zuletzt erschien sein Roman „Erwachen im 21. Jahrhundert“ (Zytglogge, 2018). Für nächstes Jahr ist ein neues Buch in Arbeit. www.juerghalter.com
Foto: Anastasia Zehnder