Ich habe letzthin geträumt, niemand hätte mehr eine Meinung.
Weiß nicht, was ich von diesem Traum halten soll. Wollte mir mein Unterbewusstsein auf diesem Wege etwas Bestimmtes verklickern?
Mich etwa zu vorauseilender Selbstzensur bewegen? Vielleicht müsste ich mir einen Traumfänger besorgen, um von solch verwirrenden Illusionen verschont zu bleiben. Die Welt ist, wach erlebt, schon verwirrend genug.
Nun sitze ich auf einem Baumstrunk in der ungefähren Mitte einer Waldlichtung. Hier stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn alle Bäume und Sträucher eine Meinung hätten, die sie in diesem Augenblick laut verkündeten.
Eine schreckliche Vorstellung. Ich würde vor lauter Meinungen den Wald nicht mehr erkennen. Der Kraftort drohte zu einem Entkräftigungsort zu verkommen.
Was ist denn los mit mir? Vielleicht habe ich in den letzten Wochen zu viele Texte von sogenannten Meinungsmacherinnen und Meinungsmachern gelesen, insbesondere von solchen, die sich seit Jahren wiederholen und bei denen man eigentlich bei jedem Thema, über das sie schreiben, schon genau voraussagen kann, wie sie sich dazu äußern werden. Kurze, oberflächliche Texte, mit vielen Schlagworten, aktuell angesagtem Diskursvokabular und den immer gleichen Sprachversatzstückchen drin. Selbstgerechter Selfiejournalismus. Selbsterhöhungsjournalimus. Empörungsjournalismus. Geschrieben für Menschen, die nur Texte lesen, in denen sie ihre eigene Sichtweise exakt bestätigt bekommen.
Bitte keine Selbstreflektion. Man selbst steht schließlich immer auf der richtigen Seite.
Es ist doch einfach eine Freude, online auf jemanden einzuschlagen für den billigen Applaus der anderen Zuschlagenden. Und man kann es erst noch “Haltung zeigen” nennen. Nein. Ich würde so ein Verhalten eher erbärmlich, herdengetrieben und empathielos nennen.
Aber sich selbst versteht man nun mal am liebsten als kritikfähig, tolerant und dialogbereit. Das ist schön, doch wenn man dann etwa Menschen, die argumentativ begründete Kritik gegen einen üben, einfach blockiert oder persönlich beleidigt, ist das eher ein Hinweis auf Intoleranz.
Social Media wandelt sich so blitzschnell in Asocial Media.
Okay, entschuldigen Sie! Ich bin wohl – O Selbstkritik! – gerade ein wenig wütend. Vielleicht liegt’s nicht nur am Meinungsoverkill, sondern auch am Baumstrunk auf dem ich hier sitze. Modell: Mooslos Unbequem.
Jedenfalls: Ich glaube, je mehr Journalismus differenziert, objektiv, sachlich und nüchtern bleibt, je weniger meinungsgetrieben und emotional er ist, desto weniger interessieren wir uns für diesen. Auch wenn wir das Gegenteil behaupten. In einem gedankenlosen Akt der Selbstentmündigung klicken wir als erstes auf die meist geklickten und kommentierten Artikel. Und das sind oft billig zugespitzte Pro- oder Contra-Texte, die uns selten zu neuen Erkenntnissen führen.
Wenn mir meine Augen vor Tagesaktualität, Breaking News und Meinungsismus flimmern, greife ich zu etwas, das manche fürchten wie einen Tag ohne Smartphone: Lyrikbände. Zum Beispiel zum unvergleichlichen Rainer Maria Rilke. Und lese dann mit verflimmerten Augen etwa sein Gedicht „Die Liebenden“:
Sieh, wie sie zu einander erwachsen:
in ihren Adern wird alles Geist.
Ihre Gestalten beben wie Achsen,
um die es heiß und hinreißend kreist.
Dürstende, und sie bekommen zu trinken,
Wache, und sieh: sie bekommen zu sehn.
Lass sie ineinander sinken,
um einander zu überstehn‘.
Ich lese es nochmals und nochmals – in einem Gedicht wie diesem kann ich mich lange spiegeln. Ich lerne neue Perspektiven kennen, treffe auf sprachliche Wendungen, die mich zum Stauen bringen, auf Zeilen, die sich der schnellen Deutung entziehen; kurz: Ich lerne wieder vertieft, Wort für Wort, zu lesen. Und merke jäh, was mir beim Konsum von meinungsgetriebenem, sprachverarmtem Tagesjournalismus alles fehlt.
Was für ein komischer Kauz ich doch sei, denken Sie wohl jetzt. Aus Protest in einem Wald Gedichte lesen? Hat Halter eine Meise? Einen Kuckuck? Ist er verrilkt geworden?
Das führt mich locker zu einer Gegenfrage: Wie viel Außenseiter sind Sie auf einer Skala von 1 bis 10? Vielleicht mögen Sie es mir erzählen, falls wir uns demnächst mal auf einem Waldspaziergang begegnen sollten.
Jürg Halter, 1980 in Bern erschienen, wo er meistens lebt. Halter ist Schriftsteller, Spoken-Word Artist und Speaker. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Autoren seiner Generation und zu den Pionieren der neuen deutschsprachigen Spoken-Word-Bewegung. Studium der Bildenden Künste an der Hochschule der Künste Bern. Regelmäßig Auftritte in ganz Europa, in den U.S.A., in Afrika, Russland, Südamerika und Japan. Zahlreiche Buch- und CD-Veröffentlichungen. Zuletzt erschien sein Roman „Erwachen im 21. Jahrhundert“ (Zytglogge, 2018).
1 Gedanke zu „Fernschreiben aus dem Wald (4)“
Wurzelstock in Zeiten von Corona
Wochenlang habe ich auf meinem morgendlichen Lauf durch den Schosshaldenwald eine Frau beobachtet, die sich unermüdlich mit einer kleinen Säge an einem Wurzelstock beschäftigte. Dieser gehört zu einer mächtigen Buche, die während eines Sturmes im wahrsten Sinne des Wortes gebodigt wurde. Vor ein paar Tagen ging ich ein bisschen näher zu dieser Frau hin um zu schauen, was sie mit ihrer täglichen Arbeit erreichen will.
Ich frage sie, was das werden soll. Sie meinte, dass sie die Löcher fülle. Was für Löcher?
Wenn ein Baum mitsamt Wurzelstock fällt, hinterlässt er dorch ein grosses Loch. Mit blossen Fingern klaubt sie die Erde zwischen den feinen Wurzeln heraus und lässt sie in das zurück gebliebene Loch rieseln. Hin und wieder entfernt sie mit der Säge die feinen Wurzeln, damit sie mit den Fingern besser die Erde aus dem Wurzelstock kratzen kann.
Ich meinte dann, ja gut, dann mache sie in dieser Zeit nichts Dümmeres. Ich Wald habe es ja noch viele Löcher, die sie füllen könne. So werde ich ihr in den nächsten Jahren sicher noch oft begegnen. Die Frau schaute mich mit grossen Augen an und sagte kein Wort.
Ich verabschiedete mich, machte mich wieder auf den Weg und begann zu philosophieren.
Was ist der Sinn einer solchen Beschäftigung? Weiss diese Frau nichts mit ihrer vorigen Zeit anzufangen? Hat sie irgendwann in ihrem Leben den Boden unter den Füssen verloren? Ist dieser in die Luft ragende Wurzelstock ein Abbild ihrer eigenen Lebenssituation? Muss sie einfach irgend etwas machen, um einen Sinn in ihrem Leben zu finden? Und eines Tages entdeckte sie diese Löcher. Es gibt ja auch sehr viele Baugruben in der heutigen Zeit. Die müssen auch alle wieder gefüllt werden. Vielleicht ist dies der Auslöser für ihre Freizeitbeschäftigung in Zeiten von Corona.
Oder könnte dieser Wurzelstock, dieser am Boden liegende Baum, Synonym für den Tod sein. Tote hinterlassen auch eine grosse Lücke. Vielleicht hat diese Frau ihren Lebenspaartner, ein Kind oder ihre Eltern verloren und verarbeitet die Trauer und den Schmerz auf ihre Weise.
Urplötzlich kommen mir die Tränen und die vergangenen Jahre laufen wie ein Film in meinem Inneren ab …