«Da war ein fünfjähriges Kind in einem Verschlag, den man als Hühnerkäfig bezeichnen könnte», sagte Ständerat Olivier Français (FDP). «Das zu sehen, hinterlässt Spuren.» Er und einige andere Mitglieder der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerates waren über Pfingsten an die EU-Aussengrenze in Griechenland gereist, um sich über die dortige Situation zu informieren.
Es ging eigentlich um sachliche Fragen. Um die Beteiligung der Schweiz an den europäischen Grenzschutzmassnahmen. Doch in den Berichten der Parlamentarier*innen in der heutigen Sitzung spürte man, wie die Zustände der Menschen sie bewegt haben, auch wenn viele gleichzeitig betonen, einen guten Eindruck von der Arbeit der umstrittenen Grenzschutzagentur Frontex zu haben.
Eine Mehrheit der Kommission schlug dem Ständerat deswegen vor, die sicherheitspolitische Vorlage um humanitäre Massnahmen zu ergänzen: Namentlich, das Aufnahmekontingent für besonders Vulnerable unter den Geflüchteten im Jahr 2023 zu erhöhen. Dies im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz.
«Es geht nicht darum, die Welt zu verbessern»
Nur: Die Mehrheit des Ständerats fand, die Diskussion über die Schweizer Beteiligung an Frontex sei der falsche Ort, um Flüchtlingspolitik zu betreiben. Eine Aufstockung des Kontingents bringe Probleme und finanzielle Belastungen, die erst mit den Kantonen geklärt werden müssten.
Ueli Maurer räumte zwar ein, dass an Grenzen menschliches Leid entstehe. Doch:
«Es ist nicht eine Vorlage, um die Welt zu verbessern, sondern um die Sicherheit zu stabilisieren.»
Eine Aussage, an Zynismus kaum zu übertreffen.
Am Ende der Diskussion gab eine einzige Stimme schliesslich den Ausschlag, dass die Erhöhung des Kontingents abgelehnt wurde (Quelle: amtliches Bulletin zur Vorlage). Die EU wird für den Grenzschutz in den nächsten Jahren mehr Geld von der Schweiz erhalten. Dies habe aber auch damit zu tun, dass es neu 40 Grundrechtsbeobachter geben werde. Löblich, aber angesichts der Pushbacks, die an den Aussengrenzen laufend gibt und welche viele Menschen davon abhalten, ihren Anspruch auf Asyl überhaupt anzubringen, Pflästerlipolitik.
599 Menschen sind 2021 bei der Flucht übers Mittelmeer bisher übrigens ertrunken.
Adieu, Menschlichkeit.
Das Beispiel und die Aussagen der Politiker*innen zeigen, wie sehr persönliche Begegnungen die eigene Perspektive prägen können; so viel mehr als eine distanzierte, rein sachliche Auseinandersetzung. Das ist so im Kontakt mit Geflüchteten, aber auch im Kontakt mit anderen Personen aus Gruppen, über die man sonst häufig diskutiert: Menschen mit Migrationshintergrund, queere Personen, Menschen mit entgegengesetzter politischer Haltung, Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, etc.. Sobald der Mensch sichtbar wird, werden «sachliche» Fragen relativiert.
So sind wir gestrickt, so funktioniert Menschlichkeit.
Blendet man sie aus, kommt es zu Zuständen wie in den Flüchtlingslagern an den EU-Aussengrenzen. Dann ist es kein Problem mehr, Mauern zu errichten. Nahende Menschen von diesen Mauern herab ins Meer zu stossen, oder sie mit Schallkanonen zu bekämpfen. Aus Distanz ist es einfach, ihre körperliche und psychische Gesundheit bewusst zu schädigen, oder zumindest Schäden in Kauf zu nehmen. Oder politische Entscheide zu treffen, welche die «Festung Europa» noch stärken, sodass auch Menschen mit Anspruch auf Asyl daran abprallen.
Das Budget von Frontex soll bis 2027 übrigens auf 5.6 Mia. Euro aufgestockt werden. Damit wir nicht hinsehen, den Menschen nicht ins Gesicht schauen müssen.
Kürzlich postete das Projekt «Empathie Stadt Zürich» auf Instagram die Aufforderung, auch im Berufsalltag als Mensch spürbar zu sein. Auch wenn das Verletzlichkeit beinhaltet. Im ersten Moment zuckte ich innerlich zusammen. Verletzlichkeit birgt das Risiko, ausgenutzt zu werden. Beruf und Privates, die professionelle und die persönliche Seite nicht strikt zu trennen, heisst, sehr achtsam mit sich selbst sein zu müssen, um nicht auszubrennen. Es braucht Mut.
Mut zur Verletzlichkeit und Komplexität
Durch die persönliche Auseinandersetzung werden Dinge aber auch komplexer. Im parlamentarischen Sachgeschäft hätte eine Erhöhung des Aufnahmekontingents einen Rattenschwanz an neuen Fragen nach sich gezogen, die man hätte bearbeiten müssen. Doch zeigt dies nicht womöglich einfach, wo in der Vergangenheit bereits falsch eingespurt wurde?
Wenn wir diesen Mut zur Menschlichkeit, welche auch Verletzlichkeit enthält, nicht aufbringen, im Arbeitsalltag, in der Politik, zerreisst es uns aber auch. Es hat einen Preis. Dann muss man beim Anblick der Kindes im Flüchtlingslager wegschauen. Mit dem Wissen leben, dass man im Ständerat die eine Person war, welche mit ihrer Stimme Hunderten von Menschen eine Chance hätte geben können.
«Wenn du mehr als genug zum Leben hast, bau keine Mauern, sondern einen grösseren Tisch.»
Ich wünschte mir, wir würden mehr nach diesem Motto leben.
Am 19./20. Juni 2021 ist «Flüchtlingssonntag», Kirchen und NGO im Bereich Migration organisieren an diesem Wochenende diverse Aktionen. Überblick: https://www.beimnamennennen.ch/de/2021/
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