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 Lesedauer: 5 Minuten

Ein Herz und eine Seele

«Ein Herz und eine Seele», das klingt wie frisch verliebt. Böse Zungen sagen, Verliebtsein sei wie eine psychotische Phase, die zum Glück vorbeigehe. Wie auch immer – ich bin sicher, dass niemand diese Phasen im eigenen Leben missen möchte: Kein Gedanke, ja keine Vorstellung davon, dass einen jemals etwas trennen könnte. Alles am anderen ist wunderbar und bezaubernd. Besonders liebt man die Eigenheiten des Andern, die ihn oder sie so unverwechselbar machen. Wie sie die Kleider in der Wohnung verteilt; das ist so Bohemian. Wie er die Suppe genüsslich schlürft; das ist so süss. Alles zieht an, alles macht das Leben aufregend und intensiv. Nur mit diesem einen Menschen möchte man zusammen sein. Die Welt ist entschwunden.

Ideale Gemeinschaft

«Ein Herz und eine Seele», diese Redewendung stammt aus der Apostelgeschichte. Mit ihr wird das Leben der ersten Gemeinde geschildert, die sich kurz nach Jesu Tod rund um die Jünger*innen Jesu herum gebildet hat. Das klingt auch wie frisch verliebt. Geborgen im aufkeimenden Miteinander waren die Sorgen der Aussenwelt weit weg. Man sorgte füreinander und teilte, was man besass, ohne zu rechnen. Diejenigen, die Land oder Häuser besassen, verkauften ihren Besitz und brachten den Erlös den Aposteln. Alle bekamen, was sie brauchten. Niemand litt Not. Eine ideale Gemeinschaft voll Grazie und Anmut.

Einmütigkeit

Dieser Bericht aus der Apostelgeschichte liefert kein Finanzierungsmodell, nach dem die Finanzflüsse einer Gemeinschaft zu organisieren wären. Es geht um die Einmütigkeit, die in dieser kleinen Gemeinschaft aus einfachen Leuten mit wenig Geld herrschte. Und um die Grosszügigkeit, die durch diese Einmütigkeit möglich wurde. Ohne zu rechnen haben die Wohlhabenderen mit den Ärmeren geteilt. Eine besondere Form von Nachbarschaftshilfe.

Grosszügig sein

Es erinnert mich an die ersten Wochen nach dem Lockdown, in denen ich diese Einmütigkeit in der Gesellschaft wahrgenommen habe. Es galt, eine nie dagewesene Situation, bei der alle im selben Boot sassen, gemeinsam zu meistern.

Die Regierung verteilte grosszügig staatliches Eigentum, damit möglichst niemand in Not gerät. Und die Leute wurden findig darin, andere zu unterstützen: Man hatte Zeit und kaufte für andere ein. Das Restaurant war zu, aber die Köche kochten für die, die das Essen brauchen konnten. Man tat, was angesagt oder notwendig war; den nächsten, ganz praktischen Schritt.

Mich als Teil einer Gemeinschaft empfinden, in der alle am gleichen Strick ziehen und alle das Ihre dazu beitragen; das zu erleben, hat mich berührt.

Die Normalität ist vielstimmig

Mit den ersten Lockerungen und der Aussicht auf Normalität war es mit der Einmütigkeit vorbei. Einzelstimmen meldeten sich zu Wort, die auf ihre Interessen pochten. Andere erinnerten daran, dass das Geld auch wieder verdient werden muss. Der Horizont färbte sich dunkel. Der drohenden Wirtschaftskrise und dem Verlust an Demokratie müsse rasch und entschieden gewehrt werden. Auch die anderen Sorgen, die vorher die öffentliche Agenda bestimmt hatten, waren wieder da.

Ich bin froh, dass sich das Leben wieder fast normal anfühlt. Ich bin froh, dass die Parlamente wieder tagen und die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Ich bin froh, dass die wichtigen Themen wieder diskutiert werden. Aber ich bin auch ein bisschen wehmütig, weil die Einmütigkeit schon wieder vorbei ist.

Gemeinschaften sind fragil

Warum herrscht die Einmütigkeit nur in besonderen Situationen? Was macht sie so fragil? Dafür interessiert sich auch die Apostelgeschichte und erzählt gleich im Anschluss an unseren Bericht die Geschichte von Ananias und Saphira. Die beiden haben ein Stück Land verkauft, behielten aber heimlich etwas für sich zurück, als sie den Erlös den Aposteln brachten.

Wo ist das Problem?

Das Problem ist nicht, dass sie etwas für sich zurückbehalten haben. Es gehörte ja ihnen. Sie hätten ihren Acker gar nicht verkaufen müssen; das war freiwillig.

Das Problem besteht darin, dass sie so tun, als ob sie alles gäben. Sie mimen Einmütigkeit, ohne es zu sein. Sie strafen die Grosszügigkeit Lügen.

Sie hintergehen den Geist, der in der Gemeinschaft herrscht und zerstören so die Gemeinschaft.

Das Ende einer Geschichte

Ananias und Saphira fallen beide tot um, sobald sie überführt sind. Ein krasses Ende, über das sich schon manches Theologen-Hirn in Sorgenfalten legte. Für mich verbirgt sich dahinter ein weiterer Hinweis, warum die Einmütigkeit so fragil ist. Für die erste Gemeinde stand das Reich Gottes unmittelbar bevor. Darum konnte man seinen Besitz zu Geld machen; man brauchte ihn nicht mehr. Bald würde die Gemeinde in die ewige Einmütigkeit eingehen. Der Tod zweier Gemeindemitglieder ist ein Bild dafür, dass diese Hoffnung erloschen ist. Und mit ihr die Einmütigkeit. Man fing an, sich in der Zeit einzurichten und für sich selbst zu schauen.

Der Anfang einer Geschichte

Kommen wir nochmal zu unserem Liebespaar. So lange sie ein Herz und eine Seele sind, leben sie, als ob die Liebe ewig so weiterginge. Aber irgendwann wird die intensive Zweisamkeit anstrengend. Die Eigenheiten, die man so süss fand, beginnen zu nerven. Man braucht Zeit für sich selbst, will Freund*innen treffen, die eigenen Interessen pflegen. Das eigene Ich wird wieder ins Recht gesetzt. Die beiden kommen in der Realität an und werden sich zum Gegenüber. Wenn sie zusammenbleiben, müssen sie einen Weg finden, auf dem jede und jeder zum eigenen Recht kommt, ohne den anderen zu erdrücken.

Aber neben dem, dass man für sich selbst einsteht und das auch dem anderen zugesteht, müssen beide das Paar im Blick behalten.

Das Paar ist eine eigene Grösse, das beider Fürsorge braucht, damit es nicht Schaden nimmt.

Die Zweisamkeit muss geschützt werden vor beruflichem Overload genauso wie vor eigenen Ängsten und Beschädigungen. Sie muss gepflegt werden, mit allem, was sie nährt. Erst so entsteht eine zweisame Einmütigkeit, die grosszügig sein lässt. Und wer möchte nicht gerne grosszügig sein und Grosszügigkeit erfahren?

 

Bericht und Geschichte finden sich: Apostelgeschichte 4,32 – 5,11

Photo by Mélody P on Unsplash

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