Dein digitales Lagerfeuer
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Die Taube im Himmel: mit kindlichen Augen schauen

Mitten im Himmel sitzt eine Taube. Wie eine Illusionistin schwebt sie schwerelos – 15, vielleicht 20 Meter über der Strasse. Den Kopf unter die Flügel gebettet, schläft sie in den Morgen hinein.

Wädenswil Dorfkern Sonntagmorgen mit Taube im Himmel
Siehst du die Taube, knapp erkennbar über dem Hausdach im Himmel schwebend?

Erst als ich näher komme, erkenne ich, dass sie auf einer über die Strasse gespannten Stromleitung balanciert – vor dem stahlblauen Himmel beinahe unsichtbar.

Es sind kleine Geheimnisse, die sich mir an diesem frühen Sonntagmorgen mitten in Wädenswil offenbaren:

Die Magie der Perspektive, die flüchtigen Wunder des Alltags, die unsichtbare Verbindung, die die Dinge zusammenhält.

Das Unscheinbare war mein Beruf

Ich bin die Einzige, die stehen bleibt. Nicht nur, weil weit und breit kein anderer Mensch zu sehen ist – sondern wahrscheinlich auch, weil ich geübter darin bin, Unscheinbares wahrzunehmen.

Das Unscheinbare ist quasi mein Beruf:

Ich bin Erzieherin.

Beinahe mein halbes Leben bin ich neben sehr kleinen Menschen auf sehr kleinen Stühlen gesessen und habe mich stundenlang über winzige Ameisen, murkelige Pilze oder feingliedrige Käfer unterhalten.

Ich duckte mich unter Gebüsche und kauerte in tiefhängenden Deckenhöhlen. Aus Rücksicht auf die Kinder habe ich meinen grossen Körper kleiner gemacht – und mich manchmal daran erinnert, wie es war, als ich selbst noch kleiner war.

Vestibüle aus Lichterglanz

Dank der Kinder habe ich die vielfältigsten Gefühle kennengelernt:

Gefühle wie Seifenblasen – sanft und kaum greifbar, bald schon zerplatzt. Wie drückende Gewitterwolken – erleichternd, wenn sie sich entladen. Wie der Südwind – wild und ungestüm, die ältesten Föhren zum Tanzen bringend.

Ich vermute, ihr wisst das; Kinder haben einen ganzen Vorrat an Gefühlen.

Sie lagern sie in tief liegenden Seelengewölben – keine klammen Keller, sondern Vestibüle aus reinstem Lichterglanz.

Dort hört man Tautropfen klingen und Sonnenstrahlen glitzern, und meistens sind die Wände aus Regenbogensamt.

Kinder und Tiere sind meine Lieblingswesen

Ich trat immer gern ein und liess mich von all den angesammelten Vorräten überraschen. Die meisten, die mit Kindern zu tun haben, wissen es:

Sie teilen ihre Gefühle gern – und oft. Sie sind grosszügig damit, das macht sie so nahbar und authentisch.

Bis heute sind Kinder – neben Tieren – meine Lieblingswesen.

Es ist, als würde ich etwas von der Schöpferin erahnen, wenn ich in Kinderaugen schaue. Die ganze Welt in sie hineingeschenkt.

Doch Gott, Eltern und Bezugspersonen wissen auch: Es ist nicht nur Göttlichkeit, die man in Kinderaugen erblickt.

Allzu oft erhascht man auch einen Blick auf sich selbst, denn sie reflektieren unsere Unzulänglichkeiten, unsere unaufgearbeiteten Ängste und all die nicht befriedeten Konflikte.

Alle Krisen dieser Welt

In ihnen spiegeln sich auch die Krisen dieser Welt. Mit Vulkanwutausbrüchen und schonungsloser Platzregen-Ehrlichkeit, mit Alle-Dämme-brechender Trauer und himmelsjauchzender Glückseligkeit.

Wenn ich meinen Alltag auf eine gute Art mit diesen kleinen Menschen teilen wollte, musste ich oft erst meinen eigenen Problemen oder den Problemen dieser Welt auf den Grund kommen.

Kinder reagieren auf ihre Umwelt und nehmen viel mehr wahr, als wir denken.

Wenn wir ihnen nicht den Raum zum Teilen geben, verschliessen sich die Zugänge zu den Vorräten an Gefühlen, bis sie irgendwann kaum mehr zugänglich sind. Dann sind sie zu früh erwachsen geworden.

Wenn wir also über unsere Welt sprechen und die Abgründe, die sich vor uns auftun, dann müssen wir auch mit Kindern sprechen: Sie sind Hoffnung und Zukunft.

Sie sind der Schlüssel zur Lösung vieler unserer Probleme. Und sie spiegeln unsere Gefühle, ohne sie einordnen zu können. Dafür brauchen sie uns.

Geheimnisse, Quellen und Wunder

Und wir brauchen ihre intuitive Erkenntnis über die unsichtbaren Verbindungen.

Ihre Beziehung zu den Geheimnissen des Lebens und den Wundern dieser Welt ist noch so unmittelbar, weil sie erst gerade aus einem Zauber heraus erschaffen und in diese Welt gebracht wurden.

Bei der Geburt sind die Schädelknochen eines Babys noch nicht vollständig geschlossen, damit der Kopf den Geburtskanal besser passieren kann und das Gehirn in den nächsten Monaten genug Raum zum Wachsen hat.

Diese Stellen sind besonders weich und empfindlich, geschützt nur durch Haut und Bindegewebe.

Man nennt diese Bereiche Fontanellen, abgeleitet vom altfranzösischen Wort für ‚kleine Quelle‘.

Die Wunder pulsieren noch stark in ihnen; sie sind das Bindeglied zwischen Himmel und Erde.

«Lasst die Kinder zu mir kommen»

Ich bin überzeugt, dass dies auch der Grund ist, warum Jesus so liebevoll über Kinder sprach.

«Lasst sie zu mir kommen», sagte er in Markus 10:14, «schickt sie nicht weg».

Und wir grossen, älter gewordenen Kinder sollen uns erinnern, wie wir am Anfang [1] waren: unschuldig, neugierig und offen, mit freiliegender Quelle, Zugang zu Gefühlsvorräten und Blick für Tauben im Himmel.

Perspektivwechsel

Es hilft, die Perspektive zu wechseln und sich für eine Weile selbst klein zu machen.

Wie hoch plötzlich die Toilette ist! Und dieses unheimlich Loch in ihrer Mitte, das Persönliches [2] mahlstromartig in den Abgrund zieht! Wie unüberwindbar eine befahrene Strasse, wie einsam das Zimmer in der Nacht mit all den Schatten!

Und wie faszinierend eine Schnecke mit ihren Fühlern in der Luft herumtanzt! Wie viele Sandkörner wohl in einen Eimer passen und wie viele Erbsen in ein Nasenloch?

Wieso sind Steine eigentlich schwer? Sitzt im Magen ein hungriges Tier, und ist es der Grossmutter auf dem Friedhof nicht langweilig? Kann Gott lachen? Wie gross ist der grösste Mensch und wie schwer ein Blauwal?

Mir ist unsere Welt zu schwer

Mir ist unsere Welt zu schwer. Auch wenn ich mein Handy ausschalte und keine Nachrichten konsumiere, spüre ich das Gewicht in jedem Atemzug.

Es setzt sich in meiner Lunge fest und zieht mich in die Tiefe, als wäre es Treibsand.

Mein Körper und meine Sorgen sind gross und die Fontanellen verschlossen. Ich kann es kaum verbergen – und würde ich noch in der Kita arbeiten, die Kinder würden es merken…

Und dann schaue ich plötzlich hoch und sehe diese eine Taube, schwerelos über Wädenswil.

Sie erinnert mich an die Wunder und an mein Seelengewölbe, vollgestopft bis obenhin.

Den Schlüssel habe noch ich, der Zugang liegt fast frei.

 

 

 

[1] «Da rief Jesus ein Kind herbei, stellte es in ihre Mitte und sagte: »Wahrhaftig, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in Gottes gerechte Welt hineingelangen.» Matthäus 18,2-3

[2] Kinder haben oft Mühe damit, auf die Toilette zu gehen, weil sie den Stuhlgang als etwas Persönliches und Eigenes ansehen. Dies kann ein Gefühl des Verlustes auslösen, besonders, weil sie in dieser Entwicklungsphase oft ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle über ihren Körper und ihre Umgebung haben. Dazu kommt, dass sie noch nicht vollständig verstehen, was mit ihrem Körper und dem, was sie ausscheiden, passiert. Aufgrund ihres noch ausgeprägten magischen und fantasievollen Denkens kann ein Toilettengang daher durchaus unheimlich wirken.

 

Sarah Staub ist Pfarrerin in der evangelisch-methodistischen Kirche Schweiz. Sie veröffentlicht bei RefLab in loser Folge Artikel rund um die Theologie der Behinderung und poetische Texte, wie zum Beispiel diesen über das Verlieren und Finden Gottes: «Gott und das Fahrrad». Wenn sie nicht auf Instagram als «die fromme Häretikerin» aus ihrem Leben postet, podcastet sie auch über Methodismus beim Holy Club Podcast.

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