was ich höre
Leise Töne fliessen durch die Luft. Helle Melodien glimmen auf. Wie zarte Blütenknospen blühen sie in meinem Ohr auf und tragen mich in eine andere Atmosphäre. Als würden Zuckerwattewolken durch die Luft schweben, dringen leise leichte Posaunenklänge in meinen Kopf.
Die raue Männerstimme, die sich in das glockenhelle Gebimmel mischt, singt jedoch das Bittgebet eines Sünders: «Have mercy on me please.» Ich höre das neue Album von Nick Cave «Wild God». Joy ist das vierte von insgesamt zehn Liedern auf dem Album. Bereits der Albumtitel deutet auf religiöse Bezüge hin, ebenso Songs wie «Final Rescue Attempt» und «Conversion», die aufeinander folgen.
Dass Cave religiöse Lieder schreibt, ist nichts Überraschendes. 2022 hat er ein Buch mit dem Titel «Glaube, Hoffnung und Gemetzel» veröffentlich. Er äussert sich immer wieder öffentlich zu seinem persönlichen Glauben und seinen Überzeugungen. Dabei spielt der Glaube an Gott und die Kritik an den Religionen lange Zeit eine grosse Rolle.
«Wild God» scheint einmal mehr eine musikalische Auseinandersetzung mit Glaubensinhalten, vielleicht sogar persönliches Glaubensbekenntnis zu sein.
was ich fühle
Der Song, Joy, ist reine Freude, zumindest musikalisch. Die Musik oszilliert, schwebende Sounds, erhebende Bläserklänge, helle Hörner, so muss Herrlichkeit klingen. Ich bin an Lobpreismusik erinnert und möchte Halleluja rufen.
Meine Wahrnehmungen entstehen nicht zufällig. Musik kann Emotionen auslösen, sie beeinflusst unsere Stimmung. Zu jeder Gemütsregung gibt es eine passende Spotify-Playlist. Und wenn ich in einer Stimmung bin, in der ich nicht sein will, dann finde ich auch die passenden Songs, um wieder rauszukommen, z.B. unter dem Oberbegriff «Moodbooster». Oder «Life sucks». Je nachdem welcher Gefühlslage man gerade nachgehen will.
Bin ich gerade von meinem Partner verlassen worden, scheint es fast unumgänglich gemeinsam mit Whitney Houston die eigene, allesumfassende, niemals endende Liebe zu bekunden oder zu Céline Dions «All by myself» mit drei Packungen Taschentüchern und dem Schokoladenvorrat von Weihnachten auf dem Bett zu heulen. Zumindest aus stereotyp dargestellter, weiblicher Perspektive.
In «Long dark night» singt Cave von der langen dunklen Nacht, die ihm gegenübersteht. Während sich das Piano immer weiter durch die Dunkelheit arbeitet und die Akustik-Gitarre den Song voranbringt, spinnt sich die dunkle lange Nacht um seinen Kopf und der Background-Chor stimmt in das Klagen des Sängers mit ein. Durch die Musik nimmt er mich mit in die Nacht, die ihn umgibt. Die Musik trägt das Leid, das Leid wird von der Musik getragen.
was in der musik passiert
Natürlich löst nicht jede Musik bei jedem Menschen dieselben Gefühle und Assoziationen aus. Kulturelle, biografische und geschlechtliche Differenzen wirken sich auf das Hörerlebnis aus. Erinnerungen werden stark mit Musik verknüpft, ebenso wie prägnante Lebensereignisse. Musik prägt unser Leben sehr individuell.
Die Musiktheorie weiss, was es braucht, um bestimmte Stimmungen entstehen zu lassen. Komponist*innen bedienen sich musikalischer Mittel, um starke Gefühle zu evozieren. Der Journalist Boris Hänssler schreibt:
«Um zum Beispiel Freude darzustellen, fügen Komponisten große Intervalle in die Stücke ein. Sie springen zwischen hohen und tiefen Tönen hin und her, wechseln häufig Tempo und Instrumente.»
Und sofort bin ich wieder bei der Freude. Ein Frauenchor haucht Ahs in mein Ohr. Sie klingen wie vom Himmel. Ich schwinge mit meinem Schritt im Rhythmus der Melodie, die Füsse sind kaum noch mit dem Boden verbunden, mit jeder Schwebephase erhebe ich mich weiter, höher hinaus, streckt sich mein Körper mehr dem Himmel entgegen. For joy.
Geister und Percussion, die um Gnade bitten: «Now ist he Time for Joy». Posaunen?! Kein Wunder. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, es ist die Offenbarung. Immer wieder leichte Trommelwirbel. Siegeszüge und Zukunftsvisionen könnten Joy als Soundtrack tragen. Meine Assoziationen sind überschwänglich und euphorisch und eindeutig auch religiöser Natur.
Hänssler schreibt weiter:
«Bei trauriger Musik geht es gemächlich zu: Die Töne ändern sich in kleinen Schritten, die Musik ist leise und gleichförmig. Furcht kommt in dissonanten Tönen daher. Sie klingt laut-stechend, manchmal schrill.»
was im kopf passiert
«Beim Musikhören versucht unser Gehirn ständig vorherzusagen, wie die Musik weitergehen wird»,
schreibt Lutz Jäncke, Neurowissenschaftler an der Universität Zürich. Dadurch entstehe eine erhöhte Dopamin-Ausschüttung. Wenn die Musik so klingt, wie unser Gehirn es erwartet, löst das in uns Glücksgefühle aus. Die Musik lebt von Spannung und Auflösung, die unser Gehirn zu antizipieren versucht.
Ich denke an Taizé Gesänge, die geprägt sind von einfachen Melodiefolgen und mehrfacher Wiederholung und wie häufig ich von «Bless the Lord my soul» einen mehrtägigen Ohrwurm hatte. Auch Kompositionen aus dem Bereich der geistlichen Musik werden von denselben Prinzipien getragen, die mal mehr mal weniger berücksichtigt wurden.
Ich vermute, Nick Cave weiss sehr genau, mit welchen musikalischen Mitteln er bei den Hörer*innen das Gefühl von überbordender Freude oder eben alles umhüllende Traurigkeit entstehen lässt. Bei mir und vielen anderen funktioniert es.
wie ich glaube
In meiner Zeit als Pfarrerin war eine der wichtigsten Fragen für die Gestaltung von Gottesdiensten die Wahl der Musik. Welche Stimmung soll entstehen, was vermittelt die Botschaft am besten.
Welche Musik wird mit Gott in Verbindung gebracht? Was erwarte ich zu hören, wenn ich einen Gottesdienst besuche. Das Hören der Orgelklänge, das Oratorium an Weihnachten oder auch die Gitarre im Jugendgottesdienst und seit neuestem vielleicht auch Nick Cave.
Dem Zusammenspiel von Musik, Text und Emotionen kommt in religiös-geistlichen Kontexten eine besondere Bedeutung zu. Die Verbindung von Glaubensbotschaften mit entsprechender muskalischer Untermalung ermöglicht mitunter intensive persönliche Transzendenzerfahrungen. Gott wird nicht einzig durch geistige Überlegungen begriffen, sondern ist auch über Emotionen erfahrbar. Klingt simpel und ist trotzdem wahr.
Bereits Johann Sebastian Bach schreibt, Gott sei bei einer andächtigen Musik gegenwärtig. Wenn ich in einer Kirche den Orgelklängen lausche, öffnet sich mein Bewusstsein für die Präsenz Gottes oder anderen transzendenten Kräften. Zumindest bin ich zugänglicher für Stimmungen und Atmosphären.
Die Idee, Musik als Quelle göttlicher Offenbarung zu verstehen, ist nicht neu. Bereits Anfang des 18. Jahrhunderts wurde über Offenbarung als nonverbales und sinnliches Ereignis nachgedacht. Lorenz Christoph Mitzler prägte damals den Begriff «Musicotheologia». In der Musik zeigte sich für ihn ein Schattenbild göttlicher Herrlichkeit. Gleichzeitig verstand er Musik auch als Trägerin biblischer Texte und Botschaften, und das Musizieren selbst als Glaubensvollzug.
wie ich bete
Biblische Motive finden sich bei Nick Cave in «Wild God» ebenso wie Gottesanrufungen und Bittgebete. Wenn er in dem Lied «Song by the lake» von einem Mann singt, der eine Frau beim Baden beobachtet, bin ich sofort bei Batseba, die von König David beim Baden beobachtet wurde. Oder die Textzeile aus «Conversion», «I was touched by the spirit, touched by the flame», die gebetsartig immer wieder wiederholt wird.
Als würde er Klages- und Lobpsalmen singen: die Psalmen des Nick Cave. Vielmehr, als dass er singt, erzählt er Geschichten von Menschen, von sich selbst und Gott. Mal mit etwas mehr, mal mit etwas weniger Hoffnung.
«Wir träumen davon, dass wir uns nicht mehr gegenseitig verletzen und tun es doch». Wir sind verhaftet in unserer elendigen Menschlichkeit, von der Nick Cave mehr als ein Lied zu singen weiss. In Cinnamon Horses stimmt der Chor in ein anklagendes «you said that» ein, während Cave davon singt, dass das Leben, von dem er träumte, ein Gutes ist. Mit Zimtpferden unter einem Erdbeermond.
was mich tröstet
Caves Musik erzeugt textliche Identifikationsmöglichkeiten und nimmt die Hörenden dabei musikalisch mit in eine Welt, die seine Texte fast lautmalerisch umsetzt. Ambivalenzen werden ausgehalten. Es wird nicht alles zu rosa Popmusik à la Katy Perry geglättet oder zu latent depressiver Singer-Songwriter-Musik runtergebrochen, die Musik darf komplex sein.
Wenn Texte wie Psalm-Gebete daherkommen und die Hoffnung sich in Posaunenklängen auflöst, werde ich gleichzeitig getröstet und aufgerichtet.
Ich habe keine Probleme mir vorzustellen, wie Nick Cave in einer Kirche steht, während die Sonne durch die bunt bemalten Glasfenster ein Schillern auf sein Gesicht legt und im Hintergrund beginnt ein Gospelchor die letzten Verse des Albums «Wild God» zu singen: «Peace and good tidings he will bring, peace and good tidings to all things.»
Friede und gute Nachrichten wird er bringen.
Friede und gute Nachrichten in allen Dingen.
Foto: Unsplash Chris Livrani
Weiterführend:
Sebastian Herrmann: Was über die WIrkung von Musik bekannt ist
2 Gedanken zu „Die Psalmen des Nick Cave“
Frau Horstmann: Danke für den Hinweis auf Nick Cage, der noch diesen Monat nach Zürich kommt. Und auf den Hinweis auf de”wirklich Ton Vetständigen” Lorenz Christoph Mizler on Kolof, dessen Musikalische Bibliothek viel Interessantes verbirgt und im Archiv MDZ München verlässlich digitalisiert sind. “Wie die gefiederten Musikanten… ihren eigenen Gesang mitgeteilt haben” (2.Band ,104) erinnert an den albatrosartigen Flug des “Wild God”-Titelstücks.
Diskutabel sind auch die eventuell krankmachenden Anteile von “Bad Vibrations”, beschrieben von James Kennaway “The History of the Idea of Music as a Cause of Disease” (2012) oder auch den neuerdings als “Stendal Syndrom” bezeichneten Phänomenen. Wann hat die emotional leadership of music eigentlich welchen Effekt ; wann betäubt sie Hörer einfach, versetzt in Tanz und Trance, wann lässt sie Stille und Meditation zu, wann lässt sie Hörerinnen und Hörer sehnen oder träumen, wann gar über reagieren?
Vom musikalischen Huldrych Zwingli in Bezug auf Musik im Gottesdienst ist mir zu wenig bekannt, wohl aber eine Vorsicht im Einsatz mit derselben. Dem Herrn ein neues Lied zu singen kann vielleicht heissen: “einen mehrtägigen Ohrwurm” s.o. haben, aber auch eingelullt werden, gleichwohl mir beim Betreten leerer Kirchenräume neben Paul Gerhardt Versen stets Taizé Texte und Töne aus der Kehle hüpfen. Oder auch einmal euphorisch eine Zeile von Petra Praise The Rock cries out. Amazing grace holt mich mehr ab wie frenetische Halleluja Perpetuum mobile Gegiller…
Cage erzählt gut. Damit ist er auf dem Weg von der Begeisterung zur Begeistung, die in dieser zerfaserten kriegstrommelverwirrten Zeit so bitter Not tut. “Conversion” erreicht da allerdings weniger den nötigen Weg vom Gehörgang zum Herzen in me. Dann schon eher mit den apokalyptischen Zimtrössern zum Himbeermond…
He seems to have a dream.
Und Sie?
Danke Jana für die wertvollen und offenen Gedanken.