Als das Objekt die Exosphäre durchbrach, dachte ich zunächst an einen Meteoriten. Das Abwehrsystem hatte in der Nacht Alarm geschlagen. Das Objekt wies einen Durchmesser von ungefähr zehn Metern auf und bewegte sich überraschenderweise leicht wellenförmig auf die Erde zu. Als ich meinem Vorgesetzten via Handy die spärlichen Informationen über diese Anomalie mitteilte, musste ich ein paar Mal leer schlucken. Ich wiederholte den letzten Satz und wartete dann in der Leitung ab. Im Kontrollraum war nur noch das Geräusch des Tischventilators zu hören.
Die chinesische Volksbefreiungsarmee musste jetzt schnell reagieren, die richtigen Personen kontaktieren, um gemäss Protokoll zunächst einen ballistischen Angriff auszuschliessen. In der Zwischenzeit hatte das Objekt an Tempo verloren – was für einen Meteoriten zu erwarten war – und bereits die Stratosphäre erreicht.
Meine trockene Stimme versagte ganz, als ich meinem Vorgesetzten die nächste Nachricht übermittelte: Das Objekt fiel nicht mehr und schwebte nun auf einer Höhe von ca. 30 Kilometer von der Erdoberfläche entfernt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mit dem Zeigefinger auf den Bildschirm tippte und dasselbe Bild auf dem zweiten Monitor betrachtete. Ich schaltete beide aus und wieder ein. Der Punkt lag an derselben Stelle und bewegte sich tatsächlich nicht mehr.
Diese Nachricht schien meinen Vorgesetzten noch mehr zu beunruhigen. Ich war hingegen ein bisschen erleichtert. Mit einem Festkörper aus dem Kosmos konnte man nicht verhandeln. Dieses Objekt schien hingegen etwas Anderes zu sein. Ich hatte meine Pflicht getan, jetzt waren andere Entscheidungsträger an der Reihe.
Ich betrachtete die Bilder des Teleskops: Das Objekt wies eine ovale Form auf, die Oberfläche war vermutlich glatt. Auf den Bildern konnte ich keine Öffnungen erkennen. Die Pressemitteilung, die ich noch am frühen Morgen las, hatte den Titel: «Chinesische Regierung testet neue Drohne». Dies schien zunächst die chinesische Bevölkerung zu beruhigen, hinter den Kulissen ging die militärische Arbeit aber erst richtig los.
Als sich die Kapsel – so wurde das Objekt in militärischen Kreisen anschliessend genannt – eine Woche später erneut bewegte, wurde die Alarmstufe rot ausgerufen. Kaum waren die Stadtgrenzen geschlossen und militärisch abgeriegelt, lag die Kapsel nur ein paar Kilometer über den Köpfen der verdutzten Einwohner von Wuhan. Die Panik brach erst dann aus, als die Kampfjets auf die Kapsel feuerten und diese unversehrt blieb.
Ein paar Minuten nach dem ersten Angriff drehte sich die Kapsel lautlos um ihre Achse, zunächst langsam, dann immer schneller. Dann setzt sie sich erneut in Bewegung, dieses Mal aber in entgegengesetzter Richtung. Das Objekt beschleunigte und verliess ein paar Augenblicke später die Erdatmosphäre. Die Nachrichten der besorgten Einwohner wurden in den sozialen Medien sofort zensiert. In der Presse, im Fernsehen und im Rundfunk wurde der Vorfall nicht erwähnt.
Am 22. Dezember 2019 brach das Virus aus und veränderte das Leben auf der Erde. Jetzt, drei Jahre später, haben wir nun endlich die Pandemie besiegt. Ob es die letzte sein wird, wird sich noch zeigen. Ich heisse Tian Sun, arbeite nicht mehr beim Militär und bin jetzt auf der Flucht. Ihr könnt mir glauben. Oder auch nicht. Ihr könnt gerne jener Erzählung glauben schenken, die ihr für glaubwürdiger haltet.
Wir können sowieso nichts verändern. Wir können uns nur anpassen.
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